2020, Essay, Im Fokus, Licht, Sage & Schreibe Nr. 32

Von Lichtern und Nachttöpfen

Zu «Licht» ist das meiste schon gesagt. Wenigstens vom literarischen Standpunkt aus. Kein Schriftsteller, von der Zeit auf den Sockel gehoben, der nicht irgendetwas übers Licht gesagt hätte. Seitenweise könnte ich sie hier abfeiern, von Novalis über Mörike bis zu Michael Krüger. Allerdings, selbst wenn schon alles gesagt wurde, sind wir doch, wir Allwissenden, wir Herren dieser Welt, Beherrscher aller Feuer, stets aufs Neue gebannt, wenn Helios, Sohn des Hyperion und der Theia, seine Pferde schirrt und gleissend ins Firmament steigt, auch wenn wir couldn’t say exactly where the night became the day*, um nun doch einen dieser Dichter zu zitieren, wenn auch keinen deutschsprachigen. Unabhängig aber, wie weit sich unsere Spezies von ihrem Urgrund entfernt, sie bleibt doch bis zum heutigen Tag gebannt vom archaischen Schauspiel der Sonnenauf- und -untergänge, zwar weniger als Pendlerhorde abends auf den Bahnhöfen denn als Pauschaltouristen beim Sundowner in der Ägäis. Womöglich eine Alterserscheinung, dass mir der Sonnenaufgang mittlerweile näher liegt als der Untergang. Und so stehe ich frühmorgens immer wieder draussen im Dämmerlicht und harre der Sonne, deren tägliches Rührstück ich freilich nur im Winterhalbjahr bezeugen kann; im Sommer geht sie bekanntlich mitten in der Nacht auf.

Sonnenaufgänge habe ich zahllose erlebt. Keiner aber war erhebender als der auf dem dreizehnten südlichen Breitengrad, und kaum je war ein Licht tragender als jenes hoch über Salvador, das sich mir als Luftschiffer – danke, Jean Paul Friedrich Richter, für diesen Begriff – allmorgendlich förmlich in die Hände gegossen hatte, wenn es sich den Weg durch Wolkentürme so hoch bahnte, dass selbst ein Gott es nicht erreichen konnte, und rötlich auf dem weissen Linnen brach.

Gleichwohl gibt es kaum einen einsameren Ort als dort oben, am Rande des Weltalls, besonders nachts, weshalb nichts brennender herbeigesehnt wird nach endlos dröger Nacht im Dröhnen der Motoren als das Sonnenlicht. Sonnenlicht (lucet) nach ewig scheinender (videtur) Nacht, zum Beispiel über dem Herzen der Finsternis, wo selbst der Sternenhimmel heller leuchtet als die verlorenen Lichtpunkte weit unten, irgendwo im Kongo, und von wo Kinshasa auch den dritten Aufruf nicht beantwortete.

Hale Bopp hiess der Komet, der, wie eine brennende Windsbraut vor dem galaktischen Horizont, uns den Weg leuchtete, nach Hause oder nach nirgendwo, und sich wie von Geisterhand auflöste, wenn sich der Lichtdom in den Himmel schob und als letzte Reste der Nacht den Schatten der Erde vor sich hertrieb.

Die nächtlichen Lichter der Städte, das fiebrige Lagos, die Autobahnen Dubais, die sich wie glühende Drähte über die unsichtbare Wüste legten, und das glimmende Paris, deutlich erkennbar zwischen Boulevard Périphérique und Île de France, wo sich Bonaparte den kaiserlichen Strahlenkranz im Zentrum der damaligen Welt aufgesetzt hatte. Und schliesslich die Lichter von Halifax: nicht ganz unerwartet tauchten sie in pechschwarzer Nacht auf, glomm die Hafenstadt vor sich hin. Für einige war es das letzte Licht. Gibt es ein traurigeres Licht als das von Halifax?

Sonne, Kometen, lichtentbrannte Städte – doch was hätte ich darum gegeben, das letzte aller Lichter nicht zu sehen! Kein Licht brennt heller als das Blendlicht der Götter, wenn sie einem ins Auge greifen und es blenden. Es gleisst wie ein unauslöschlicher Funke, heller und heller, und man kann doch den vergehenden Blick nicht davon wenden. Zahlreich sind die Berichte derjenigen, die auf dem Weg zum Tode sich noch einmal ins Leben davon gemacht haben und von einem Licht so hell, so unermesslich hell berichten, und, Halleluja, es für das Licht Gottes halten. Ach, die armen Irren! Was sie für das göttliche Licht halten, ist nichts weiter als die eigene Blendung. Wenn einem das Sehen vergeht, wenn der Sehnerv, dieses faserdünne, neuronale Gewebe seine Funktion einstellt, scheint vor dem inneren Auge, einmal noch, ein Licht so hell, wie man es sich nicht denken kann, bevor eine endlose Finsternis wie eine Woge über einem zusammenschlägt.

So war es wohl auch 1832, in Weimar. Bei wem schliesslich, wenn nicht bei Goethe, würde man das Lebensende mit Licht in Verbindung bringen, er, der im Auge das Sonnenhafte sah, das ansonsten die Sonne nicht erblicken könnte, wie er in den Xenien dichtete. So ist denn auch, ausgerechnet, das Sterbenswort des Dichters ein Lichtwort: «Mehr Licht.» – Nichts Geringeres soll Goethe vor seinem allerletzten Atemzug gesagt haben. Was für ein Dichterwort, mag sich da manch einer denken. Ersterbend in Finsternis, ruft er nach Licht! Die Realität soll jedenfalls merklich profaner gewesen sein, und ich erinnere mich, wie mein Deutschlehrer an der Kanti, sich vom Hundertsten ins Tausendste steigernd, auf Goethes angeblich letzte Worte kam und sich über all die Germanisten mokierte, die diesen Ausspruch überinterpretierten. Im Frankfurter Dialekt nämlich, führte er aus, bedeute Licht, mit Diphthong gesprochen, soviel wie «heller», und also habe Goethe vor dem Ableben nur noch nach etwas Rahm in seinen abendlichen Kaffee verlangt. Die Version mit dem Kaffee, fügte der Deutschlehrer hinzu, sei freilich die zivile Variante. Tatsächlich habe der dem Lichte ersterbende Dichterfürst nach dem Nachttopf verlangt. Ob sich Goethe noch erl(e)ichtern wollte oder konnte, bevor er ad inferias ging, wusste er, der sonst alles wusste, dann aber doch nicht.

*Tony Harrison. A Kumquat for John Keats.

Von Lukas Tonetto, Deutschlehrer