Von Katrin Brupbacher, Geschichtslehrerin
Hätte man Anfang 2020 auf Schweizer Strassen eine beliebige Anzahl Leute gefragt, was sie spontan mit Masken assoziieren – es wären ihnen wohl Begriffe wie Fasnacht, Maskenball oder Gurkenmaske eingefallen.
Dann kam Corona – und es ist zu vermuten, dass die im Zug der Pandemie verordnete Mund-/Nasenbedeckung das Assoziationsfeld zum Begriff Maske längst auf dieses wenige Quadratzentimeter grosse Textil reduziert hat. Wer es wie und in welcher Variante trägt, dürfte zu einem der interessanteren Forschungsfeld für Kommunikations-, Politik- und Gesellschaftwissenschaften werden.
Verwandeln – Verdecken – Schützen: Funktion und Formen
Löst man sich von der schutzmaskengeprägten Gegenwart, so sind Masken als Kulturobjekte so etwas wie eine «anthropologische Konstante» in der Geschichte der Menschheit.
Es gibt sie, kurz zusammengefasst, seit Menschen in ihrer Entwicklung zum Homo sapiens sapiens ein Selbst-Bild entwickelt und sich in der Steinzeit durch das Anziehen einer Maske in ein anderes Wesen verwandelt haben. Weltweit sind sie buchstäblich seit Menschengedenken in Gebrauch und zeigen oder verbergen das zweite Gesicht. Sie treten deshalb in schier unüberblickbarem Anwendungs- und Formenreichtum auf und sind verbunden mit unterschiedlichster symbolischen Bedeutung. In dieser Vielfalt zeigt sich jenseits des reinen Schutzaspekts eine zentrale kulturgeschichtliche Funktion von Masken: die Verwandlung, das Spiel mit dem Verdecken und Enthüllen.
Ganz am Anfang… war auch die Maske
Ob die ca. 45’000 v. Chr an Höhlenwände gemalten Mischwesen aus Mensch und Tier Abbildungen von Masken tragenden Menschen oder Darstellungen von mythischen Wesen darstellen, hat die Wissenschaft bis heute nicht geklärt. Das Spiel des Verwandelns aber ist in diesen Malereien zweifellos angedeutet.
Konkret erhalten sind Masken aus der Jungsteinzeit. Eine der ältesten wurde im Westjordanland gefunden, vermutlich um 9000 v. Chr. hergestellt.
Archäologen vermuten, dass die aus rötlichem Sandstein gefertigte Maske in Riten des lokal verbreiteten Ahnenkultes zum Einsatz kam. Dass es sich hier aber nicht um eine Totenmaske handelte, lassen die je zwei Löcher an den Seiten vermuten. Durch diese konnten Bänder zum Festschnüren am Hinterkopf eingezogen werden.
Zur letzten Ruhe – und fürs Andenken der Verstorbenen
Ob schamanische oder Totenmaske – beide dienten sie im Ritus dazu, Ahnen, Fruchtbarkeitsgöttinnen oder Dämonen zu vergegenwärtigen und gleichzeitig in Schach zu halten.
Damals wie heute sind nicht nur die Rituale an sich, sondern auch die Herstellung der dazu verwendeten Masken sowie deren Träger von grösster Bedeutung. Das rührt von der Vorstellung, dass durch die Maskierung ein anderes – übernatürliches – Wesen in die Mitte des Publikums geholt werden kann. Aufzeichnungen zufolge waren die mit der Maskenherstellung betrauten Handwerker und Künstlerinnen fähig, die übernatürliche Kraft der repräsentierten Wesen spüren zu können. Entsprechend vorsichtig mussten sie damit umgehen. Nicht zufällig standen diese Handwerker in ausgesprochen hohem gesellschaftlichen Ansehen.
Wenn schon dem Maskenmacher eine spirituelle Verbindung (und Verpflichtung) zu seinem Kunstwerk und dem damit Assoziierten zugeschrieben wurde, so wirkte sich dies umso mehr auf ihren Träger aus. Denn nur durch den Leben spendenden Beitrag des Trägers oder die Trägerin konnte die Maske ihre Strahlkraft entfalten und damit die rituelle Handlung und Verwandlung – auslösen.
Die beschriebenen oder von Anthropologen aufgezeichneten «Betriebsanleitungen» zum Umgang der Maskenträger mit dieser Herausforderung sind denn auch äusserst vielfältig.
Zur Verwandlungsfunktion von Maskenritualen (Transformation etwa in Ahnen oder in Schöpfergottheiten) kommt in nichtschriftlichen Kulturen eine weitere hinzu: die der Überlieferung vergangener Ereignisse und Schöpfungsmythen. Hier fungieren die Masken als Verbindungsstück zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dazu gehört, wie die Masken der Guarani-Indianer in Bolivien zeigen, auch die Kolonialgeschichte: Da mischten sich am «Fest der Toten und Lebenden» mit der Zeit auch weisse «Padrones» als Ahnen unter die Leute.
So ein Theater! Aber bitte mit Maske
Eine der wohl grossartigsten Errungenschaften menschlicher Zivilisation ist die «Erfindung» des Theaters. Die Maske als Utensil fürs Theater entstand im alten Griechenland aus dem Kult um Dionysos, den Gott der Fruchtbarkeit, des Weins und nicht zuletzt der Ekstase. Zur ursprünglich simplen Verhüllung der Darsteller mit Ziegenfellen kam mit der Zeit das raffiniertere Maskieren. Im 6. Jh. v. Chr. entwickelte sich aus dem religiös geprägten Ritual ein rituelles «Drama», welches immer stärker formalisiert zum eigentlichen griechischen Theater wurde. Dabei nahmen die Masken, welche die Schauspieler trugen, eine wichtige Funktion ein: Sie halfen dem Publikum, Alter, sozialen Rang und Beruf einer Figur rasch – und aus der Distanz der Zuschauerränge – zu identifizieren. Zudem konnten durch das Wechseln der Masken innerhalb eines Stücks wenige Schauspieler mehrere Figuren darstellen.
[Bild: www.agora.ascsa.net]
Im europäischen Mittelalter waren die antiken Dramen vergessen; theatralische Aufführungen fanden in Form von Passions- und Mysterienspielen und damit immer in einem liturgischen Kontext statt. Und dies zeitigte Auswirkungen bis weit in die heutige Zeit. Man geht beispielsweise davon aus, dass einiges maskendominiertes Brauchtum der Gegenwart – vom Mardi Gras in New Orleans bis zur Lötschentaler Fastnacht – auf mittelalterlichen Bühnen ihren Ursprung hatten.
Einen kreativen Aufschwung erlebte das maskierte Theater mit der Commedia dell’Arte in der italienischen Renaissance und der allseits gekannten Figur des «Arlecchino» – eine eigentliche Blütezeit in allen Teilen Europas, die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein anhielt.
Ein fast abruptes Ende setzte diesem Bühnentreiben die Aufklärung. Die doppelte Grundidee von Öffentlichkeit «Phantastik», die das Maskentheater kennzeichnete, geriet in Widerspruch zur Idee der Rationalität und der damit verbundenen Ablehnung von Übersinnlichem jeder Art. Von Angesicht zu Angesicht, in direktem Austausch, sollten die Ideen oder politischen Pflichten von nun an auf und neben der Theaterbühne diskutiert werden. Schluss sollte sein mit der Vergegenwärtigung von Dämonen, Engeln und Teufeln. Die Maske war allenfalls als Überbleibsel höfischer Festkultur geduldet– am bekannten «Maskenball» und als Teil des hochadligen Zeremoniells des «Inkognito».
Bleibt zu hoffen, dass die auf allen Kontinenten noch lebendigen Maskentraditionen schon bald wieder weiterleben dürfen, das pandemisch bedingte Maskentragen endlich ein Ende findet. Freuen dürfen wir uns schon jetzt: Auf den nächsten Maris Gras, die nächste Basler Fastnacht, die Appenzeller Silvesterkläuse oder den Karneval in Rio.