Essay, Quo vadis, Sage & Schreibe Nr. 22

Was es mit den basalen Kompetenzen auf sich hat

oder Warum Lesen, Verstehen und Schreiben nicht nur Sache der Deutschlehrer ist
Mit dem Bildungsziel für die Matura, dass „Schülerinnen und Schüler […] zu jener persönlichen Reife [gelangen], die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet“ (MAR, 1995, Artikel 51), stellt sich eine doppelte Forderung für die Maturanden und Maturandinnen: Einerseits sollen sie den Herausforderungen, welche das Leben innerhalb und als Teil einer komplexen Gesellschaft stellt, nicht nur gewachsen sein, sondern sie sollen in ebendieser Gesellschaft anspruchsvolle Aufgaben übernehmen können. Andererseits – und darauf fussen die weiteren Ausführungen – sollen sie die (fachliche) Reife erhalten, um den Anforderungen, welche ein Hochschulstudium an die zukünftigen Studierenden stellt, kompetent zu begegnen.

Fit für die Hochschule dank basalen fachlichen Kompetenzen
Und hier setzt das Projekt der EDK vom März 2012 an. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (kurz EDK) möchte mit dem Erlangen der Matura den prüfungsfreien Hochschulzugang gesichert und deshalb gewährleistet sehen, dass MaturandInnen grundsätzlich jedes Studium erfolgreich aufnehmen können. Die EDK folgte dabei den Ergebnissen und Empfehlungen der EVAMAR II-Studie (Eberle et. al., 2008) und gab fünf Teilprojekte in Auftrag. Ich werde in der Folge nur auf Teilprojekt 1 eingehen, die Allgemeine Studierfähigkeit. Dieses hat sich zum Ziel gesetzt, grundlegende fachliche Kompetenzen in den Grundlagenfächern Erstsprache und Mathematik zu eruieren, über welche Maturanden und Maturandinnen auf nicht kompensierbare Weise mindestens verfügen müssen, um als studierfähig zu gelten.

Basale fachliche Studierfähigkeiten sind Fähigkeiten, die einen soliden Grund, eine tragende Basis legen, sodass erfolgreich darauf aufgebaut werden kann. Selbstverständlich erhält dieses Fundament nicht erst auf der Schwelle zur Hochschule eine derartige Wichtigkeit. Auf jeder Schwelle wird geprüft und ist geprüft worden, ob die Grundlagen sitzen und um Mängel sichtbar zu machen. Dieses Fundament muss tragfähig sein vom ersten Lesenlernen an, damit gewinnbringend anspruchsvollere Aufgaben bewältigbar sind – wie auch die Beherrschung des Einmaleins unabdingbar ist für die Lösung komplexer mathematischer Problemstellungen.

Diese basalen Kompetenzen sollen im Verlauf der gymnasialen Ausbildung systematisch gefördert und geprüft werden und nicht erst anlässlich der Matur im Zentrum stehen (auch weil an der Praxis der Kompensierbarkeit ungenügender Noten nicht gerüttelt werden soll). MaturandInnen „können“ also durchaus mehr, als es die basalen Kompetenzen verlangen, zumindest im einen oder anderen Fach. Aber jede Maturandin, jeder Maturandin muss mindestens über die basalen fachlichen Fähigkeiten in Erstsprache und Mathematik verfügen (für andere Fächer wie Fremdsprachen oder Informatik gibt es ganz offensichtlich ebensolche basalen fachlichen Fähigkeiten, die stehen aber bislang nicht im Fokus). Damit sollten sie gerüstet sein für eine weitere berufliche Ausbildung an der Hochschule.

Stellt sich also die Normfrage: Wo setzen wir das Genügend an? Wie hoch soll die Latte gesetzt werden? Walter Herzog, unter anderem emeritierter Ordinarius für Pädagogik an der Universität Bern, äussert sich in seinem vielbeachteten Artikel „Bildungsstandards ante portas“ im Gymnasium Helveticum kritisch gegenüber der Standardbewegung in den Schulen. Als „bildungspolitische Grosswetterlage“ bezeichnet er die Tendenz einer politischen Einflussnahme über Standardisierungsreformen (wie HarmoS und Lehrplan 21) und Bildungsmonitoring, wenn auch bislang erst in der öffentlichen Schule der Fall. Eine solche Normierung über lokale und regionale Grenzen hinaus habe zum Ziel, über den Output Einfluss zu nehmen und somit eine steuernde Funktion auszuüben. Indem also die Politik verbindliche Bildungsstandards vorgebe, die konsequent überprüft würden, wie es der alle vier Jahre erscheinende Bildungsbericht Schweiz für die öffentliche Schule tut, könne über den Output regulierend Einfluss genommen werden und bringe „im Schlepptau eine weit weniger harmlose Umformung unserer öffentlichen Schule mit sich“ (Herzog, 2015, S. 9). Vom Prinzip Bildung als Prinzip der Persönlichkeitsformung werde somit übergegangen in eine Bildung, die Wissen und Können meint, welche Problemlösungsstrategien im Umgang mit konkreten Lebenssituationen erfolgreich anzuwenden wisse. (Herzog, Walter, 2015, Bildungsstandards ante portas?, in: Gymnasium Helveticum, 3/2015, S. 8; http://www.vsg-sspes.ch/fileadmin/files/GH/GH_03_2015.pdf). Umso diffiziler stellt sich demzufolge die Frage nach der Messlatte, an der wir – gemäss Herzog – bloss selber gemessen werden sollen?

Eine solche utilitaristische Tendenz in der Bildungslandschaft nehme ich ebenfalls wahr. Jedoch scheint mir mit Blick auf den Kurzbericht, der als Abschluss des Teilprojekts 1 gilt, das Eruierte für die Erstsprache (für die Mathematik kann ich das nicht sagen) gleichfalls als wahr und wichtig, sodass wir uns als Deutschfachschaft den darin geäusserten Forderungen deswegen gerne verpflichten, weil sie ein klares Zeichen setzen für mehr Verbindlichkeit in den fachlichen Fähigkeiten der Erstsprache und unmissverständlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit fordern von (fast) allen gymnasialen Fächern: Nur gemeinsam können wir ein sprachliches Niveau erreichen, das Maturandinnen und Maturandinnen auch weiterhin den prüfungsfreien Zugang zu Universitäten erlaubt. Aber werden wir konkreter:

Franz Eberle, Professor für Gymnasialpädagogik an der Universität Zürich, der schon für die EVAMAR-Studien verantwortlich zeichnete, hat mit seinem Team den noch unveröffentlichten Kurzbericht, der sich zurzeit in der Vernehmlassungsphase befindet, im Oktober 2014 der EDK zugestellt. Die Erhebung der Daten (Teil A) erfolgte über alle Landesteile und Studienfächer. Dabei wurden einerseits zwei besonders erfolgreiche Studierende aus je zwanzig Studiengängen nach dem ersten Hochschuljahr qualitativ danach befragt, welche Fähigkeiten sie für unabdingbar hielten, um erfolgreich ein Studium in Angriff zu nehmen; andererseits wurden Dozierende befragt, welche Voraussetzungen die Studenten gemäss ihrer Einschätzung mitbringen müssen, um den Aufgaben an ein Studium gewachsen zu sein. Die Auswertung und damit der Vorschlag, was als fachliche Studierkompetenzen gelten soll (Teil B), überzeugt und lässt mit Blick auf den Lehrplan Deutsch der Alten Kanti gute Prognosen für unsere MaturandInnen zu.

Insbesondere die rezeptiven Fähigkeiten wie das Verstehen fachlich anspruchsvoller Vorträge oder Diskussionen, das Sich-Zurechtfinden in (wissenschaftlichen) Texten sowie deren Verständnis sind gemäss Bericht im ersten Studienjahr – und je nach Organisation des Studienfachs – zentral zu bewältigen. Nicht in allen Studienfächern werden bereits im ersten Jahr produktive erstsprachliche Kompetenzen gefordert. Indes in den philologischen Fächern, in Geschichte, den Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie im Studienfach Architektur spielen Kompetenzen wie Texte planen und strukturieren können oder dieselben anzureichern verstehen mit Materialien und Argumenten aus eigener Recherche, effiziente und systematische Verschriftlichung sowie inhaltliche und formale Überarbeitung eine wesentliche Rolle. Das setzt selbstredend die Handhabung von Grammatik und Orthographie voraus. Ebenso gehört beispielsweise ein Wissen um die vielseitigen Wirkungsweisen unterschiedlicher Textsorten dazu.

Umsetzung der Forderungen an der Alten Kanti
Basale fachliche Studierfähigkeiten seien zwar für eine allgemeine Studierfähigkeit unabdingbar, aber noch nicht hinreichend, betont Eberle in seinem Bericht immer wieder, und legt den Finger darauf, dass über deren Sicherstellung die Vorbereitung auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft (vertiefte Gesellschaftsreife) ebenso ein Hauptziel eines Gymnasiums bleiben muss! Zudem bilden die nichtbasalen Kompetenzen in Erstsprache und Mathematik weiterhin wichtige Bereiche, ebenso wichtige wie bisher.

Keine Panik also, weder der Erstspracheunterricht noch die Ausrichtung des Gymnasiums soll komplett umgekrempelt werden. Das Grundlagenfach Erstsprache, also Deutsch an der Alten Kanti, kann Wesentliches beitragen, um die genannten Kompetenzen zu fördern und zu festigen, zum Beispiel in Form einer für alle verbindlichen, nicht kompensierbaren Interpunktions- und Orthographieprüfung, oder indem verstärkt ein Schwerpunkt auf die Arbeit mit Sachtexten (Konzeption, Argumentationsstruktur o.ä.) gelegt wird. Aber das allein reicht bei weitem nicht aus. Diese Kompetenzen sind nicht fachspezifisch, sondern elementar! Will man aus den Ergebnissen des Teils B ernsthaft Konsequenzen ziehen, müssen sowohl auf schulorganisatorischer Ebene als auch auf der Ebene der einzelnen gymnasialen Fächer Nägel eingeschlagen werden; mit didaktischen Konzepten wie Stützunterricht oder Halbklassenunterricht, mit Verankerung der interdisziplinären Ausrichtung der basalen fachlichen Kompetenzen in den Lehrplänen weiterer gymnasialer Fächer. Und dabei sind alle Fächer in die Pflicht zu nehmen, zumindest fast alle. Sie spielen eine tragende Rolle bei der Sicherung der erstsprachlichen Kompetenzen wie auch bei der Vermittlung von Textverständniskompetenzen im Rahmen wissenschaftlicher Fachliteratur. Denkbar wären eine Textverständnisprüfungen (mündlich oder schriftlich) auf der Basis fachwissenschaftlicher Texte sowie ein deutlicher Akzent der Benotung von Projekt- und Maturaarbeiten hinsichtlich sprachlicher Kompetenzen. Hier müssen fachschaftsübergreifend neue Ansätze gefunden und verbindlich implementiert werden. In der Zusammenarbeit, scheint mir, liegt unsere Zukunft.

Lara Dredge, Deutschlehrerin