2023, Aktuelles, Bericht, Im Fokus, Sage & Schreibe Nr. 36, Zeit

Wenn Geschichte lebendig wird

Im Schweizer Mittelland soll das Mittelalter wieder lebendig werden. Möglich macht es der Verein «abenteuer – zeitreise», welcher den Nachbau einer Siedlung plant, wie sie zwischen 1000 und 1500 n. Chr. ausgesehen haben könnte. Wir haben uns zusammen mit Silvia Aeschimann, der Initiantin des Projekts, einerseits auf eine Zeitreise zurück ins Mittelalter begeben, andererseits aber auch auf eine Reise in die Zukunft, denn die Umsetzung des Projekts steht noch in den Sternen.

Von Rahel Furrer und Regina Knüsel, G19A

Burgen, Schlösser, Ritter und Schwerter: Alles Dinge, die uns als Erstes in den Sinn kommen, wenn der Begriff «Mittelalter» fällt. In Wahrheit repräsentierte das höfische Leben jedoch nur zehn Prozent der damals in Europa lebenden Bevölkerung, der Rest setzte sich aus Handelsleuten, Bauern und Handwerkern zusammen.
Mit Mittelalterklischees aufzuräumen ist denn auch eines der Anliegen von «abenteuer – zeitreise». Im geplanten Weiler soll deshalb mittelalterliche Geschichte ganz ohne Ritterturniere und Schwertkämpfe lebendig werden. Vielmehr soll erlebbar gemacht werden, wie die Mehrheit der im Mittelalter lebenden Menschen ihren Alltag verbrachte: Korn mahlen mit Steinmühlen, anbauen von alten Gemüsesorten, weben von Stoffen und vielem mehr.

Geschichte erleben
Die Grundidee zum Bau eines Weilers kam Silvia Aeschimann schon vor über zehn Jahren. Geschichte hat sie seit ihrer Kindheit fasziniert; nicht das Auswendiglernen von Jahreszahlen und bedeutsamen Ereignissen, sondern das Nachempfinden und Wiedererleben von Geschichte. Die Frage «Wie war es wohl damals?» fesselt sie bis heute.
Im Rahmen einer Abschlussarbeit leitete sie ein Projekt in die Wege, welches sie bis heute jeden Freitag mehrheitlich für Primarschulklassen anbietet. Dazu fährt sie mit einem Bus hinaus in die Natur, beladen mit mittelalterlichen Utensilien, und durchlebt mit den Schüler(inne)n eine Reise in längst vergangene Zeiten. Die Kinder sollen erforschen, wie der Alltag der Menschen damals aussah, und dabei selbst mit anpacken.
Zu Beginn werden mittelalterliche Kleidungsstücke verteilt. Dieser Prozess des Umkleidens löst schon viel in den Kindern aus. Das Gefühl der ungewohnten Textilien auf der Haut trägt dazu bei, dass sie tief in die Zeit des Mittelalters eintauchen. Ausserdem spielt es plötzlich keine Rolle mehr, wer sich die teuersten Markenkleider leisten kann oder wer gerade die coolsten Schuhe trägt: Denn ausgesucht werden kann nicht, es wird getragen, was gerade zur Verfügung steht.
Der Transport und Aufbau der Utensilien ist mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden. Deshalb entstand der Wunsch, einen festen Standort zu haben, eine ganze Siedlung, bestehend aus mehreren Gebäuden, wo mittelalterlicher Alltag erlebt werden kann. Zusätzlich könnte dort das Angebot an Aktivitäten um einiges erweitert und diese Welt noch detaillierter dargestellt werden.
Momentan befindet sich das Projekt noch in der Entwicklungsphase. Personen aus verschiedenen Fachbereichen werden für die Umsetzung einer solchen Vision benötigt: unter anderem Projektmanager, Handwerker aus verschiedenen Fachgebieten, Archäologinnen – und nicht zuletzt ein Heer von Freiwilligen.


[ Bild: zVg]

Der Teufel steckt im Detail
Bei der Rekonstruktion eines mittelalterlichen Weilers steht der Verein vor grossen Herausforderungen. Fehlende Informationen sind das grösste Problem, denn solange man nicht jedes noch so kleine Detail kennt, ist eine Rekonstruktion in Fachkreisen umstritten. Das geht so weit, dass man zum Beispiel wissen muss, wie viele Pfosten eine Wand hatte. Diese Informationen hat man aber meistens nicht, da die Bauten damals gänzlich aus organischen Materialien bestanden, welche naturgemäss längst nahezu restlos zersetzt sind. Deswegen muss vieles aus der damaligen Baupraxis wieder hergeleitet und als «Rekonstruktionsversuch» deklariert werden. In anderen mittelalterlichen Projekten, berichtet Silvia Aeschimann, wurde zum Beispiel an mittelalterlichem Mörtel getüftelt, oder die Konstruktion eines Schindeldachs wurde erprobt. Man muss also das Mittelalter gewissermassen erst selbst erleben, um es authentisch rekonstruieren zu können.


[ Bild: zVg]

Mittelalter heute
Das Thema Mittelalter scheint nicht viel mit der heutigen Zeit zu tun zu haben, warum also sollte man sich heute noch so zeit- und kostenintensiv damit befassen?
Denken wir zurück an diese Epoche, ist unsere Vorstellung davon nicht nur von Rittern und Schwertern, sondern auch von Schmutz, Dreck und Düsterheit geprägt: Ein Bild, das dieser Zeit nicht gerecht wird, wie Silvia Aeschimann ausführt. Denn wenn wir uns auf eine Zeitreise dorthin begeben, landen wir in einem völlig anderen sozialen Umfeld, in dem andere Werte wichtig sind. Die Gemeinschaft hat hier den grössten Stellenwert. Ganz anders als bei uns heutzutage, wo jeder unabhängig und frei sein will und sich deswegen nirgends langfristig engagieren oder festlegen möchte. Gerade deshalb möchte Silvia Aeschimann das Gefühl von «es braucht alle, um etwas zu schaffen» insbesondere den jungen Leuten näherbringen und so das Gemeinschaftsgefühl stärken, aber auch die Wertschätzung gegenüber der Arbeit der anderen steigern.


[ Bild: zVg]

Damals und heute
Bei einer Zeitreise vom Heute ins Mittelalter oder umgekehrt ist die wohl grösste Schwierigkeit, dass einem das Wissen der eigenen Zeit nichts nützt.
Eine Person aus dem Mittelalter käme mit der heutigen Technologie wahrscheinlich gar nicht klar. Sie könnte weder mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen, noch im Supermarkt einkaufen, sie könnte wohl keinen Brief verschicken oder ein Kochfeld bedienen. Was aber nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass Menschen in sogenannt ärmeren Ländern heute noch täglich Techniken benützen, die man vor 500 oder 1000 Jahren schon anwandte.
Andererseits wären wir verloren im Mittelalter, denn wir wüssten nicht, was man essen kann, wie man sich vor Kälte schützt, wie man Kleider herstellt und so weiter. Allein dieser Gedanke ruft bei Silvia Aeschimann eine grosse Bewunderung für die Fähigkeiten der Menschen im Mittelalter hervor. Sie habe drei Jahre geübt, bis sie einen guten Faden habe herstellen können, sagt sie. Wenn sie im Museum dann die alten, kunstvoll gewebten Stoffe sieht, kann sie nur staunen. «Wie haben die Leute damals bloss so feine Fäden hinbekommen», sagt sie, «und diese dann noch so raffiniert in so einem komplexen Muster verwebt?»
Tatsächlich verändert die intensive Auseinandersetzung mit solchen Fragen den Blick auf das Mittelalter, das eben nicht so dunkel war, wie wir gerne glauben. Ebenso aber sehen wir auch die heutige Gesellschaft mit anderen Augen. Und das macht die Zeitreise rückwärts so spannend.