Die Jenischen, oft auch «Fahrende» genannt, gehören zu einer Minderheit in der Schweiz, der von der Gesellschaft wegen ihrer Lebensart nicht selten mit Zurückhaltung, Misstrauen oder gar offener Ablehnung begegnet wird. Wir wollten genauer wissen, was das für ein Leben ist, wenn man während der Sommermonate mit der ganzen Familie von Ort zu Ort zieht. Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft Zürich und heute «sesshaft», hat sich unseren Fragen gestellt.
Von Naima Zürcher und Anna Lisa Lüthy, G19A
sage&schreibe: Sie waren lange Jahre mit Ihrer Familie unterwegs. In welcher Beziehung stehen Sie zur jenischen Lebensweise?
Daniel Huber: Grundsätzlich sind ja nicht alle Jenischen unterwegs, und wer auf die Reise geht, tut es nur während der warmen Monate. Ich zum Beispiel war nicht von klein auf auf der Reise. Aufgewachsen bin ich im Helmetschloo, in einer jenisch geprägten Strasse von Zürich, wo ich mit meinem Vater in einer kleinen Wohnung lebte. Mein Vater war ein sogenanntes Kind der Landstrasse. Zur Erklärung: 1926 begann die schweizerische Stiftung «Pro Juventute» den Fahrenden, insbesondere den Jenischen und Sinti, ihre Kinder wegzunehmen. Die Intention dieses Projektes war es, die sogenannte «Vagantität», also alles Nichtsesshafte, zu bekämpfen. Zu dieser Zeit wurden bis zu 700 Kinder unrechtmässig von ihren Familien getrennt.
Als Kind ging ich am Wochenende mit meinem Vater auf einen Platz, wo sich jenische Bekannte aufhielten. So hatte ich bereits in meiner Kindheit engen Kontakt mit der jenischen Kultur. Erst im Alter von 15 Jahren verkündete mir mein Vater dann, dass es jetzt ab auf die Reise geht. Anschliessend war ich dann fast 20 Jahre lang auf der Reise. Of d Reis gah, da isch öppis ganz Speziells. Während dieser Zeit habe ich meine heutige Ex-Frau kennengelernt und bin später mit meinen Kindern umhergereist. Seit einigen Jahren bin ich aber aufgrund meines Amts als Präsident der Radgenossenschaft sesshaft geworden. Natürlich gefällt mir auch das sogenannt sesshafte Leben, aber im Frühling würde ich schon manchmal gern wieder losziehen.
Auf der Reise sein – wie müssen wir uns das vorstellen?
Auf der Reise sein, bedeutet eine ganz andere Art von Freiheit. Me isch spontan wie de Wind. Im Sommer über reisen wir immer wieder an neue Orte, und im Winter rasten wir auf festen Halteplätzen, dadurch sind wir das ganze Jahr zusammen. Der Zusammenhalt ist stark. Man arbeitet im Team, sitzt gemeinsam am Feuer oder geht zusammen in die Ferien. Ja, auch wir gehen nämlich in die Ferien. (Lacht.)
Inwiefern beeinflusst die jenische Lebensweise die Kinder?
Die Kinder von Jenischen, Roma oder Sinti sind wie alle anderen Kinder. Vielleicht sind sie etwas wilder, aber dafür werden sie schon viel früher selbstständig. Anders als «normale» Kinder werden sie im Sommer zu Hause unterrichtet und sind im Winter stets in einer anderen Schule untergebracht. Mit jedem neuen Standplatz ändert sich somit auch die Schule. Dementsprechend müssen sich die Kinder immer wieder neu einleben, wovon sie in ihrer Entwicklung jedoch auch profitieren können.
Wir verstehen unter dem Begriff «zuhause» einen festen Ort, einen Ort, an dem wir aufgewachsen sind. Was bedeutet Heimat für euch?
Für uns Reisende ist zu Hause kein fester Ort oder ein Gebäude, es sind vielmehr schöne Erinnerungen, die man auf der Reise erleben darf. Daneben sehen wir natürlich die Schweiz als unsere Heimat – und die kennen wir wahrscheinlich besser als viele sesshafte Einheimische. Heimat ist aber auch ein Gefühl, dass wir zum Beispiel spüren, wenn wir an einem der wenigen Durchgangsplätze halten dürfen. Dann schätzen wir das sehr, dann ist das für uns auch Heimat.
Welches sind die unschönen Seiten an Ihrer Lebensart?
Es ist teilweise auch eine sehr schwierige Lebensart. Du weisst ja nie, was morgen ist. Du weisst oft nicht, wie viel du am nächsten Tag verdienst, ob du überhaupt etwas reinholst für das Überleben. Bei uns ist vieles unvorhersehbar. Dies ist sicher auch ein Grund, weshalb die Behörden unsere Lebensweise eher argwöhnisch betrachten: Man kann uns nicht wirklich fassen. Dabei entstehen Vorurteile.
Gerade auch während Corona war es schwierig. Die Plätze wurden dichtgemacht. – Aber ohne diese Plätze sind wir verloren. So wird eine Minderheit kaputt gemacht. Man nimmt ihr den Lebensraum. Wir brauchen diese Plätze, und wir zahlen ja auch dafür. Aber gut, Corona war und ist für alle schwierig. Jedenfalls sind wir wohl die am besten kontrollierten Menschen in der Schweiz. Ich sage auch immer: Wir haben die gleichen Pflichten, aber nicht die gleichen Rechte. Auch wenn viele das Gegenteil behaupten: Wir wollen nicht mehr Rechte als andere. Wir wollen das gleiche Recht.
Womit haben denn die vielen Vorurteile gegenüber den Fahrenden zu tun?
Das ist schwierig zu erklären. Diese Frage müsste ich eigentlich umkehren. Sie müssten mir eigentlich erklären, woher diese Vorurteile stammen. – Aber wenn du eine Minderheit bist, hast du einfach einen Stempel. Wir haben nun mal einen anderen Lebensstil. Die Sesshaften verbinden unseren Lebensstil oft mit Campieren. Aber wir campieren nicht, wir wohnen. Wir haben ja kein Haus, kein Land. Vielleicht ist da auch ein gewisser Neid. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese grosse Freiheit auch eine gewisse Eifersucht bei den Sesshaften auslöst.
Ich denke auch ein Problem ist, dass man alle in den gleichen Sack wirft. Es wird nicht einzeln gewertet, wie bei den Sesshaften. Dazu kommen natürlich auch die Medien, die negativ über uns berichten.
Was sollte sich denn ändern?
Stand- und Durchfahrtsplätze zu schaffen, das ist unglaublich wichtig. Ohne diese Plätze können wir unsere Kultur nicht leben. Es gibt viele Orte, wo man solche Plätze schaffen könnte. Ich frage mich dann immer: Warum macht man das nicht?
Auch bezüglich der Schule gibt es einen Bedarf an Verbesserung. Unsere Kinder bekommen kein normales Zeugnis, weil sie nur im Winter in die Schule gehen und die restliche Zeit Aufgaben erhalten. Aber wenn du kein Papier hast, bist du ein Niemand. Wir brauchen die gleichen Chancen wie Sesshafte.
Oder die Älteren. Sie waren ihr Leben lang unterwegs, und wenn sie nicht mehr können, müssen sie ins Heim, wo sie vereinsamen. Deshalb: Ein Standplatz für die Alten, das fände ich sehr schön.
Was können wir Sesshafte von den Reisenden lernen?
Vielseitigkeit. Jenische haben nie Gewissheit, müssen immer improvisieren. Sie sind Vielseitigkeitskünstler. Überlebenskünstler. Das haben viele Sesshafte ein bisschen verlernt. Sie sind fixiert auf den eingeschlagenen Weg und bei Abzweigungen schnell überfordert.
Das andere ist das Zusammengehörigkeitsgefühl. Uns ist die sehr wichtig. Da rede ich von Familie.
Grundsätzlich finde ich die Begegnung zwischen Jenischen und Sesshaften zentral. Du müsste man viel mehr tun. Wir können nämlich alle voneinander lernen.