2023, Aktuelles, Im Fokus, Reportage, Sage & Schreibe Nr. 36, Zeit

«Wir sind alle nur ein Zahnrad in der Uhr des Lebens»

Die Uhrmacherei hat eine lange Tradition in der Schweiz. Uhren verraten mehr als nur die Zeit. Um den Geheimnissen, welche sich hinter den Uhren verstecken, auf den Grund zu gehen, haben wir die Uhrmacherin Rebekka Meier in der Uhrenstadt Grenchen besucht. Sie betreibt dort in der alten Michel-Villa seit Jahren ein Uhrenatelier.

Von Johannes Voss (G19A) und Olivier Schade (G20F)

Dass die Stadt Grenchen bekannt ist für ihre Uhrenindustrie, sehen wir schon auf dem Weg zur Michel-Villa. Auf der rechten Strassenseite stehen die Manufakturen der Swatch Group, hinter den grossen Fenstern wird gearbeitet. Gegenüber steht im starken Kontrast zu den Fabrikanlagen die prunkvolle Michel-Villa. Früher im Besitz der Unternehmer, gehört sie nun den Familien Meier und Vogt und wird als Uhrenatelier genutzt. Wir werden erwartet und von Rebekka Meier sogleich freundlich begrüsst. Als wir das Empfangszimmer betreten, bietet sich uns ein atemberauender Anblick. Das ganze Zimmer ist mit verschiedensten Uhren ausgeschmückt, welche alle fröhlich vor sich hin ticken.

Uhren im Wandel der Zeit
Rebekka Meier beginnt sofort, uns einige Stücke ihrer Sammlung vorzustellen und lässt uns an ihrer Faszination für Geschichte und Handwerk teilhaben. Wir werden jedoch durch einen eintretenden Kunden unterbrochen. Er hat eine kleine, antike Standuhr bei sich, welche nicht mehr funktioniert. Auch wenn ihm die Uhr sehr am Herzen liege, sagt er, wolle er nicht mehr viel Geld für die Reparatur ausgeben. Dies kommt nicht selten vor, wie wir später erfahren. «Das erlebe ich oft. Viele Leute sind heutzutage nicht mehr bereit, viel Geld für eine Uhr auszugeben», bestätigt Rebekka Meier, nachdem der Kunde das Atelier wieder verlassen hat. Gleichzeitig betont sie aber auch, dass alte Uhren, wenn sie denn von guter Qualität sind, eine sehr lange Lebensdauer haben und nach einer Reparatur noch viele Jahre einwandfrei funktionieren.
«Früher hatten Uhren aber auch eine ganz andere Bedeutung als heute.» Damals verriet eine kunstvolle Uhr im Wohnzimmer den hohen Status in der Gesellschaft. Uhren sind zwar heute noch ein Statussymbol, jedoch hat sich ihr Platz vom Wohnzimmer ans Handgelenk verlagert. «Dabei ging allerdings einiges an Dezenz verloren. Eine Uhr am Handgelenk ist in einem gewissen Sinn lauter als eine Stand- oder Wanduhr im Wohnzimmer.»


[Bild: Olivier Schade]

Blick hinter die Fassaden
Um uns einen Blick in ihr Arbeitsumfeld und ihr Handwerk zu ermöglichen, führt Rebekka Meier uns in ihr Uhrenatelier. Der Anblick ähnelt dem einer Zahnarztpraxis. Überall liegen kleine Werkzeuge herum. Es hat einfach alles, was es braucht, um eine Uhr auseinanderzubauen, zu reparieren und wieder zusammenzubauen. Sie zeigt uns das anhand einer Uhr, an der sie gerade arbeitet. Es ist eine kleine Standuhr, die stehen geblieben ist. «Alles muss erst gesäubert und dann neu geölt werden, damit sie sauber läuft», erklärt sie. Als alles mit Schweinefett frisch eingeölt ist, beginnt sie die Uhr Zahnrad für Zahnrad wieder zusammenzubauen. Allmählich nimmt das Zahnräderskelett wieder die Form eines Uhrwerks an. Wir sind erstaunt, mit welcher Ruhe und Routine sie die Einzelteile der Uhr wieder zusammensetzt. Ganz so einfach ist das nicht, schliesslich ist jede Uhr etwas anders aufgebaut. «Normalerweise macht man vorher ein Foto von der Uhr, aber mit der Zeit weiss man einfach, welches Teil auf welches passt», sagt sie schmunzelnd.
Man sieht ihr an, dass sie in ihrem Element ist, wenn sie an einer Uhr herumschrauben kann. Sie sei schon immer jemand gewesen, der sich dafür interessiert, wie es hinter der Fassade von Dingen aussieht, erzählt sie uns. «Ich habe schon mit fünf die Waschmaschine auseinandergebaut und dann wieder zusammengesetzt.» Auf Grund von diesem handwerklichen Geschick hat sie nach dem Abschluss der Kantonsschule ihren Beruf gewählt. Das Handwerk eines Uhrmachers erlernt man an einer Uhrmacherschule, wovon es auch in Grenchen eine gibt. Rebekka Meier nutzte diese Gelegenheit und absolvierte ihre Ausbildung in ihrem Geburtsort. Nach der Ausbildung gründete sie ihr eigenes Uhrenatelier in dem Haus, in dem sie ihre ganze Kindheit verbracht hat, der Michel-Villa.

Die Michel-Villa
Sie bietet uns an, uns in der Michel-Villa ein wenig herumzuführen, denn das Haus ist wirklich imposant. Die hohen Decken sind mit Verzierungen und Stukkaturen geschmückt. Stolz führt sie uns in das Herzstück der Villa: das Esszimmer mit angrenzendem Wintergarten. Antike Holzmöbel und mehrere Tische verleihen dem Raum etwas Grossbürgerliches. Durch die Fenster sieht man in den Garten der Villa. Nach einem Spaziergang durch den Garten, bemerken wir, dass wir das Ticken der Uhren mit der Zeit ausgeblendet hatten; nun, da wir wieder und noch ein letztes Mal in das Haus eintreten, fällt es uns wieder auf. So überlassen wir Rebekka Meier jetzt wieder ihren tickenden Uhren, und den ineinandergreifenden Zahnrädern und bedanken uns noch einmal herzlich für die interessanten Einblicke. Unsere Zeiger stehen nun auf «nach Hause», das heisst: Abschied nehmen von Rebekka Meier, der Michel-Villa und den Uhren.


[Bild: Olivier Schade]