2020, Im Fokus, Interview, Licht, Sage & Schreibe Nr. 32

«Wir sind vom Licht abhängig»

Ob die Sonne scheint oder nicht – Licht gehört für uns vielleicht zum Selbstverständlichsten, was es gibt. Aber es macht so einiges mit uns, auch dann, wenn es nicht da ist. sage&schreibe sprach mit dem Psychotherapeuten Bruno Sternath darüber, was für einen Effekt Licht auf uns Menschen und insbesondere unsere Psyche hat.

Dr. Bruno Sternath, inwiefern ist Licht wichtig für unseren Körper und unser Leben?
Wir sind vom Licht abhängig. Licht ist für unsere Psyche sehr wichtig, insbesondere wegen des Melatonins. Melatonin ist ein Hormon, welches für unseren Schlaf zuständig ist. Tagsüber, wenn wir dem Sonnenlicht ausgesetzt sind, wird die Ausschüttung von Melatonin gehemmt. Dies sorgt für eine Stimmungsaufhellung. Sobald es dunkel ist, wird Melatonin ausgeschüttet, was uns müde macht.

Im Dunkeln wird das Melatonin weniger gehemmt. Heisst das, dass es uns in der Nacht generell schlechter geht?
Entscheidend ist die Lichtmenge. Im Sommer sind wir dem Licht generell länger ausgesetzt, da es länger hell ist. Wenn man abends nach Hause kommt, ist es noch hell und man kann noch etwas Licht tanken. Im Winter jedoch ist es noch dunkel, wenn man aufwacht, und bereits wieder dunkel, wenn man abends nach Hause kommt. Deshalb fühlen wir uns in den Wintermonaten stimmungsmässig oft etwas gedämpft.

Wir fühlen uns schlechter, weil die Tage kürzer sind?
Die «Sonnenlichtdauer» ist im Winter verkürzt, doch wir passen uns dem nicht mehr an. Wir arbeiten genau gleich lange, auch wenn es draussen schon dunkel ist. Unser Körper würde sich lieber an die Umwelt anpassen und früher zur Ruhe kommen. Doch wir machen – aufgrund unserer modernen Lebensweise – den Tag künstlich länger, als er sein sollte.
Dazu kommt, dass viele Leute im Winter weniger nach draussen gehen und somit auch weniger direktes Sonnenlicht aufnehmen. Das führt eben dazu, dass der wichtige Melatonin-Hemmer fehlt. Dies kann sich dann negativ auf unsere Psyche auswirken.

In den nordischen Ländern steigt die Depressionsrate im Winter stark an, hat das etwas damit zu tun?
Dort sind mehrere Faktoren im Spiel, doch einer davon ist bestimmt das Licht. Ein Phänomen, das auch zu beobachten ist, ist der hohe Alkoholkonsum in diesen Ländern. Alkohol hat eine stimmungsaufhellende Wirkung. Der lange Winter in den nordischen Ländern schlägt natürlich auf die Psyche, was die Wahrscheinlichkeit von Alkoholmissbrauch erhöhen kann.

Wie gehen Sie mit Patienten um, die unter einer saisonalen Depression leiden?
Bewegung ist sehr wichtig, genauso wie an die frische Luft zu gehen. Oft rate ich meinen Patienten raten, Spaziergänge zu machen. Doch wenn jemand unter starken Depressionen leidet, fehlt oft der Antrieb, nach draussen zu gehen. Wenn eine depressive Person sich die Schuhe nicht binden kann, dann kann man ihr nicht einfach sagen, dass sie spazieren gehen soll. Sie muss zuerst die Schuhe binden können. Es ist oft so, dass die Menschen zwar wollen, aber sie müssen zuerst ein anderes Hindernis überwinden, um weiterzukommen.
Wenn jemand jeden Winter mehr emotional negativ geflutet wird, ist es nicht nur das wenige Licht, das zu einer saisonalen Depression führt. Es gibt auch viele andere Faktoren, die von Person zu Person variieren – wie zum Beispiel Stress oder belastende persönliche Erlebnisse. Doch das fehlende Licht kann schliesslich den Ausschlag geben, dass sich die anderen Faktoren manifestieren und es zur Depression kommt.

Hat Licht einen direkten Einfluss auf andere psychische Krankheiten? Wenn ja, welche und weshalb?
Die Depression ist sicher am häufigsten, da Licht sich ja direkt auf den Hormonhaushalt auswirkt, welcher allgemein einen grossen Einfluss auf unsere Psyche hat. Auch Schlafstörungen können psychische Ursachen haben, und sie können ebenfalls durch das Licht beeinflusst werden.

Inwiefern wirkt sich Licht auf Schlafstörungen aus?
Zum einen gibt es da das Licht des Handys. Das Handy-Licht regt uns an und verhindert, dass wir müde werden, was uns dann beim Einschlafen stört. Deswegen sollten wir das Handy nicht erst vor dem Schlafengehen aus der Hand legen. Auch bei Menschen, die zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten arbeiten, in einem sogenannten «Schichtbetrieb», spielt Licht eine wichtige Rolle. Diese Rhythmuswechsel bedeuten massiven Stress für den Körper. Ein Patient von mir, der Schichtarbeiter ist, muss immer für eine gewisse Zeit eine Nachtlampe angeknipst haben, damit er später einschlafen kann und trotzdem Licht bekommen hat.

Es gibt eine sogenannte Lichttherapie – wie funktioniert sie?
Bei der Lichttherapie kommen gezielte Farben, Farbtemperaturen, Helligkeiten, Intensitäten und Modulationen zum Einsatz – also Wechsel in der Helligkeit oder in der Abfolge von Farben. Dies kann bei verschiedenen Krankheitszuständen eine positive therapeutische Wirkung haben: Gezielt eingesetztes rotes und infrarotes Licht kann beispielsweise die Durchblutung fördern und die Wundheilung begünstigen.
Bei Alkoholismus können Begleitsymptome des Entzugs wie Depressionen, Ängstlichkeit, Appetit- und Schlafstörungen gemildert werden. Im akuten Alkoholentzug verbessert sich die Leistungs-, Auffassungs- und Konzentrationsfähigkeit. Darüber hinaus steigen die Wachheit, die Stimmung und der Antrieb. Auch der Rückfallgrund «Schlafstörung» kann durch die Lichttherapie gemildert werden.
Die Lichttherapie ist jedoch keine langfristige Lösung. Nach vermehrter Aussetzung verliert die Lichttherapie ihre Wirkung, wenn sie wieder angewandt wird. Ausserdem hat das natürliche Sonnenlicht ein deutlich breiteres Spektrum und ist immer noch am besten für uns.
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[BIld: Gohar Tamrazyan & Annina Roth]
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Dr. rer. pol. Bruno Sternath ist eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut FSP. In Zürich, Rapperswil/SG und Pfäffikon/SZ betreibt er das Institut «HumanPsychology», das auf Psychotherapie, Coaching, Supervision, Organisationsentwicklung und Mediation spezialisiert ist. Ausserdem hilft er ambulanten Burnoutgruppen und ist Notfallpsychologe im Care-Team der Psychologischen Ersten Hilfe (PEH) des Kantons St. Gallen. www.humanpsychology.ch

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Von Marigona Gervalla und Jeanne Leuthard, G3L