„Glauben Sie an Wunder?» Kaum jemand im Umfeld einer Kantonsschule wird diese Frage mit einem uneingeschränkten «Ja» beantworten. Wunder wirken wie ein Relikt aus alten Tagen. Sie erinnern an Aberglaube und Magie. Im Denken unserer Zeit scheinen sie keinen Platz mehr zu haben. Der Gang Jesu auf dem Wasser? – Spontane Heilungen an Wallfahrtsorten? – Eine Madonna, die Blutstropfen weint? – Wundersame Erscheinungen am Himmel? Nein, danke!
Oder ist vielleicht doch etwas dran an den Wundern? Unsere Umgangssprache ist gespickt mit Wunderbarem: Wir erleben wundervolle Abende, hören wundersame Geschichten und sind verwundert ob der Artenvielfalt in der Natur. Wenn man den Texten auf Geburtsanzeigen Glauben schenken mag, so werden täglich Tausende von Wundern geboren, einzigartig und wunderschön anzusehen. Wunderkinder in Wissenschaft, Sport und Musik versetzen Menschen in ungläubiges Staunen, die Medizin wirkt Wunder, und «Das Wunder von Bern» hallt bis heute nach. Die Tourismusbranche preist Wunderwelten an, Kinder sind «gwundrig», und manch alter Mensch ist wunderlich und wunderbar zugleich. Eine Welt voller Wunder?
Der Wunderbegriff ist schillernd und vielfältig, Eindeutigkeit ist in der Wunderthematik nicht zu erwarten. Aus diesem Grund orientiert sich der vorliegende Text an einer Wundertüte, greift er doch verschiedene Facetten und Teilaspekte des Wunder(n)s auf.
Der Begriff Wunder leitet sich vom Sich-Wundern her. Am Anfang aller Begegnung mit der Welt und mit dem Leben steht das Staunen und Sich-Wundern. Die ungläubige Verwunderung, die sich in Kinderaugen spiegelt, erinnert daran, dass das Wundern dem Menschen zutiefst eigen ist, und zwar besonders dann, wenn er sich seine Welt erschliesst, sie Stück für Stück begreift und mit Neugierde erforscht. Wissenschaftshistoriker konnten zeigen, dass in früheren Zeiten zwischen Wundern und Erkenntnis kein Gegensatz bestand. Für Menschen der Antike waren Wunder Begebenheiten, die sie staunen liessen und in denen sie die Wirksamkeit göttlicher Macht oder Mächte intensiv erfuhren. Fragen nach der historischen Wirklichkeit oder der naturwissenschaftlichen Möglichkeit stellten sich den damaligen Menschen kaum, da sie diese Kategorien gar nicht kannten. In der Frühen Neuzeit, dem Zeitalter der «wissenschaftlichen Revolution» würde man aus heutiger Sicht eine zunehmende Wunderskepsis erwarten. Jedoch erfreute sich das Wunder gerade unter Naturforschern besonders grosser Beliebtheit. Francis Bacon (1561-1626), Ahnherr einer modernen, empirisch verankerten, wissenschaftlichen Methodologie, forderte sogar die systematische Sammlung von Wundern, also wundersamen Ereignissen und Naturerscheinungen. Die Orientierung an Einzelfällen, die Konfrontation mit dem Besonderen und Aussergewöhnlichen wurde zu einem bevorzugten Gegenstand der Naturwissenschaft. Bis heute besitzen Wunder, so man sich denn auf sie einlässt, eine für die Wissenschaft besonders wichtige Eigenschaft: Sie zeigen die Grenzen des (momentanen) Wissens auf und spornen an zu forschen, um mehr und besser zu verstehen.
Sind Wunder also letztlich (nur) Geschehnisse, die wir jetzt noch nicht begreifen, irgendwann aber werden erklären und in unser Weltbild integrieren können? Sicherlich hängt das, was als Wunder gilt, vom jeweiligen Bewusstseinsstand einer Gesellschaft ab. Hinzu kommt der jedem Menschen eigene Deutungs- oder Interpretationshorizont, der in unserer stark durch Individualisierung geprägten Gesellschaft recht unterschiedlich aussehen kann. Ein und derselbe Vorgang, z.B. wenn ein Mensch den Sturz von einem Gerüst aus grosser Höhe überlebt, kann als Zufall, als Tat Gottes oder als logisch erklärbar erfahren werden. Eher rational verortete oder skeptische Menschen werden versuchen, das Geschehene mit Gesetzmässigkeiten aus den Naturwissenschaften zu erklären. Sie werden die Umstände des Vorfalls rekonstruieren und mit experimentell wiederholbaren Abläufen vergleichen. Häufiger als gemeinhin angenommen sind jedoch selbst sogenannt «aufgeklärte», moderne Menschen geneigt, ungewöhnliche Ereignisse einzuordnen, indem sie ihnen eine selbst assoziierte, teils «höhere» Bedeutung geben. Der deutsche Mediziner, Kabarettist und Moderator Eckart von Hirschhausen erläuterte in der Fernsehsendung Sternstunde Philosophie vom 26.03.2017 auf humorvolle Weise, wie unser Gehirn darauf getrimmt sei, Verknüpfungen zwischen Ereignissen herzustellen und Kausalitäten zu entwerfen, weil sich dies im Zuge der Evolution als günstig für den Menschen erwiesen habe. Dass Verliebte überall Zeichen und Wunder sehen, ist von Vorteil, da es hilft, den Anderen oder die Andere im allerbesten Licht zu sehen und eine Beziehung einzugehen, was für das Fortbestehen der menschlichen Gattung nicht unerheblich ist. Das Blitzen und Donnern am Himmel einer wütenden Gottheit zuzuordnen, konnte Menschen in der Antike die allzu grosse Angst vor dem Unberechenbaren nehmen. Heutigen Menschen hilft es, wenn sie in Stresssituationen einen Glücksbringer dabeihaben, der angeblich Wunder wirkt. Dass die Prüfung am Schluss gut herauskam, wird mit der Wirkmacht des Stofftierchens oder Wundersteines in Verbindung gebracht. Diese von Hirschhausen beschriebene funktionalistische Sichtweise gibt Wundern somit einen relevanten Platz im menschlichen Leben.
Sind Wunder durch die Funktionalisierung aber nicht entzaubert? Kommen wir zurück auf das ungläubige Staunen in Kinderaugen angesichts einer überraschenden Entdeckung, auf die Sprachlosigkeit und das (meist) unfassbare Glück von jungen Eltern beim Anblick ihres Kindes, das sie als Wunder erleben. Auch auf das schier unbeschreibliche Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, das Menschen erfahren haben müssen, die den biblischen Berichten zufolge von Jesus geheilt wurden. In allen Fällen widerfährt den Menschen etwas, das sie «umhaut», das sich ihrer eigenen Kontrolle entzieht. Wunder geschehen, sie wirken auf den Menschen ein, treffen ihn wie der Blitz aus heiterem Himmel. Nicht der Mensch selbst ist Auslöser und Akteur, er kann höchstens mehr oder weniger offen dafür sein. Im Wesen des Wunders ist angelegt, dass es von aussen auf den Menschen zukommt und somit – bei aller möglichen Skepsis – doch immer die Frage aufwirft, ob da eine andere, höhere Macht am Werke sei. Wunder brechen das Berechenbare, Vorhersehbare und Planbare auf und machen Platz für Neues, Unerwartetes. Wenn auch im Nachdenken über das Geschehene verschiedene Möglichkeiten der Verarbeitung zur Verfügung stehen, so bleibt doch der Moment des Getroffen-Seins, der Überraschung und des Staunens als Erfahrung, die nicht negiert werden kann. Wundererfahrungen sind herausfordernd und manchmal eine Zumutung angesichts der Annahme, dass alles planbar und kontrollierbar sei. Zugleich sind sie spannend, sie rütteln auf, können etwas in Gang bringen, neue Erkenntnisse ermöglichen. Und sie bringen das Transzendente ins Spiel. Was wäre ein Leben ohne Wunder?
Von Bärbel Hess Bodenmüller, Religionslehrerin und Beauftragte für kirchliche Arbeit