2023, Sage & Schreibe Nr. 36

Zeitenwende

«Die Zeit ist kein Sumpf, sie ist Strom. Alle Völker nennen sie so, und mit Recht. Denn Stillstand ist nirgends, sondern fortwährender Wandel der Dinge und darum Verwandlung von Allem», schrieb der aus Magdeburg stammende und in Aarau sesshaft gewordene Publizist Heinrich Zschokke (1771 – 1848) im Jahr 1817 in seinen «Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit».

[Bild: Alexandra Ihle]

Von PD Dr. Stephan Schwarz, Lehrer für Geschichte

Die Zeit an sich ist Kontinuität. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, sie ist im reinen Wortlaut «zeitlos». Die Zeit ist dennoch eine messbare Grösse. Dienten im Altertum einfache Sonnenuhren und im Mittelalter Sand- und Räderuhren zur Messung der Zeit, so verfügen wir heute dank modernster Technologie über präzise Messgeräte, so z. B. über Atomuhren, welche eine Abweichung von gerade mal einer Sekunde in 300 Millionen Jahren aufweisen. Doch dienen Uhren eigentlich nur dazu, die Zeit für uns Menschen verstehbar zu machen. Was sich im Lauf der Geschichte stets veränderte, ist nicht die Zeit an sich, sondern unser Bezug zurzeit. Gaben im Mittelalter und in der frühen Neuzeit dem einfachen Landsmann noch die Kirchenuhren beziehungsweise -glocken die nötigen Anhaltspunkte für den Tagesverlauf, so sind in der heutigen Welt Uhren in fast allen Situationen des Alltags unverzichtbar geworden. Ohne Zeitmessinstrumente gäbe es weder das Internet noch die Orientierung mit GPS; viele Sportarten wären ohne präzise Zeitmessung undurchführbar…

Unser Alltag ist geprägt von einem oftmals sehr dichtgedrängten Zeitplan. Das durchorganisierte Leben ist nicht zuletzt eine Auswirkung der Industrialisierung. Vor allem ist der Faktor Leistung, der eine immer wichtigere Rolle spielt, eine extrem zeitgebundene Grösse. Die Effizienzsteigerung entspricht einer Zunahme der Produktion innerhalb einer definierten Zeiteinheit. Wem dies gelingt, hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten. Wer produktiver ist, verdient mehr Geld; das entnehmen wir dem vom schottischen Moralphilosophen Adam Smith 1776 veröffentlichten Standardwerk des Kapitalismus über den «Wohlstand der Nationen». Angetrieben vom Ehrgeiz nach mehr Effizienz stieg die Produktivität in der Industrie seit dem 19. Jahrhundert in atemberaubendem Tempo Das alte Sprichwort «Zeit ist Geld» hat nach wie vor seine Gültigkeit. Die Angst, dass die Konkurrenten uns überholen könnten, lässt uns schneller werden, auch wenn wir dies für uns selbst vielleicht gar nicht wünschten. Nicht selten fühlen wir uns als Getriebene. Vermag unsere Seele oder unser Körper da überhaupt noch mitzuhalten? Findet dieser Temporausch jemals ein Ende?

Zusammen mit der Französischen Revolution, welcher der britische Sozial- und Wirtschaftshistoriker Eric Hobsbawm (1917 – 2012) eine epochale Bedeutung beimass, beendete die nicht minderbedeutende Industrialisierung das feudale Zeitalter. Die noch aus dem Mittelalter stammenden Gesellschaftsstrukturen verschwanden innerhalb kürzester Zeit und machten einer höchst dynamischen Entwicklung Platz. Eine wahrhaft revolutionäre Epoche brach an und krempelte die Gesellschaft stärker um, als alle früheren historischen Entwicklungen dies vermocht hatten. Neue Gesellschaftsschichten traten in Erscheinung, so etwa die der Fabrikarbeiter und der Fabrikherren. Losgelöst von der seit Jahrhunderten bestehenden «göttlichen Ordnung» entstand im Lauf des 19. Jahrhunderts eine neue, durch die Industrialisierung immer mächtiger werdende Geldaristokratie, welche ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss durch Geschäftstüchtigkeit, Ehrgeiz, Risiko und vor allem durch eine immer schneller werdende technische Dynamik sicherte.

Die Steigerung der Produktivität wurde zum Nährboden einer neuen Elite; aber auch die Gestaltung des Alltags von «Normalbürgern» wurde durch die neue Zeit umgekrempelt. Hat man im Mittelalter mit der Arbeit begonnen, wenn das Tageslicht es zuliess, so begann mit dem Ertönen der Fabriksirenen für die Belegschaft der hektische Alltag, denn die arbeitsteilige Produktion – die sich nach der Veröffentlichung von Smith’s berühmtem Buch immer mehr durchzusetzen vermochte – ist erst dann möglich, wenn alle Beteiligten gleichzeitig vor Ort sind. Dies hat sich bis heute nicht verändert: Alle am Arbeitsprozess Beteiligten richten sich nach der gleichen Zeit. Um die Produktion am Laufen zu halten, gibt es Arbeitsschichten mit definierten Zeitfenstern, die jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin bekannt sind. Stempeluhren erfassen die genaue Arbeitszeit vieler Angestellter.

Auch der Unterricht in der Schule beginnt mit der wohlbekannten, wenn auch nicht immer geliebten Schulglocke. Eisenbahnen, Flugzeuge, Schiffe oder Autobusse verkehren nach klar festgelegten Fahrplänen; an diese müssen wir uns halten, wollen wir zeitgerecht von A nach B gelangen. Ohne die ausgeklügelten Taktfahrpläne des öffentlichen Verkehrs käme heutzutage der Geschäfts- wie auch der Reiseverkehr zum Erliegen. Einerseits können wir dank kluger Organisationsstrukturen schneller reisen und die Arbeitsprozesse effizienter gestalten, doch anderseits sind wir die Leidtragenden einer immer leistungsbezogeneren Gesellschaft, in der wir uns zunehmend als Getriebene fühlen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma scheint kaum möglich, wenn wir nicht zu gewissen Verzichtsleistungen bereit sind. Dem verbreiteten individuellen Wunsch nach Entschleunigung zugunsten vermehrter Musse kommt eine Wertegemeinschaft in die Quere, die sich während des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs herausgebildet hat und der das Streben nach Wachstum und Gewinnmaximierung oberste Maxime ist.

Je komplexer die Ansprüche sind, welche die moderne Gesellschaft an uns stellt, desto wichtiger ist es, sich auf die persönlichen Grundwerte zu besinnen und nach Möglichkeit Leistungsbereitschaft und Wohlbefinden in Einklang zu bringen. Aber eben, um dies zu erlangen, müssten wir grundsätzlich bereit sein, das auf Effizienzsteigerung fixierte Wettbewerbsdenken zu relativieren und uns vermehrt in Selbstgenügsamkeit üben. Ob das gesellschaftliche Kollektiv jedoch ohne erhebliche Sachzwänge jemals sich gegenüber solchen Bestrebungen offen zeigt, darf bezweifelt werden.


Filmausschnitt aus «Modern Times» von Charlie Chaplin [Bild: cnn.com]