2018, Porträt, Sage & Schreibe Nr. 28, Wunder

Zwischen Leben und Tod

Ein Augenblick, der das Leben verändert. Oft hören wir von diesem einen Augenblick; doch erleben tun ihn die meisten nie. Der Familienvater Beat Fehlmann hat einen solchen Moment erfahren und gibt uns einen Einblick in sein «zweites Leben».


[Bild: Tobias Gamp]

Wir befinden uns im Garten der Familie Fehlmann, uns gegenüber sitzt der stolze Vater dreier Kinder. Seine Person strahlt pure Lebensfreude aus, das Lachen weicht ihm nicht vom Gesicht. Er beobachtet uns mit aufgewecktem Blick. Niemand könnte auch nur erahnen, was ihm in jungen Jahren widerfahren ist.

Aufgewachsen ist Beat auf einem Bauernhof in Möriken. Als er 18 Jahre alt ist, beschliesst er, seine Schwester, die zu dieser Zeit als Au-pair in Paris arbeitet, zu besuchen. Eines Abends unternehmen sie gemeinsam einen Spaziergang im Stadtpark «Champs de Mars». Diese Entscheidung sollte zum folgeschwersten Augenblick in Beat Fehlmanns Leben führen. Er überquert die Strasse und wird unvermittelt von einem Fahrzeug erfasst. Der Autofahrer war zu schnell unterwegs und verlor die Kontrolle über seinen Wagen. In den Polizeiberichten gibt der Fahrer später an, dass er aufgrund einer unvorhersehbaren Verkehrssituation intuitiv entscheiden musste: entweder auf den Bürgersteig auszuweichen oder auf der Fahrbahn zu bleiben, wo das spätere Opfer gerade den Fussgängerstreifen überquerte. Er entschied sich für die Fahrbahn und also eine potenziell geringere Opferzahl, da sich eine Menschengruppe auf dem Bürgersteig befand. 30 Meter wurde Fehlmanns Körper durch die Luft geschleudert, bevor er beim Brunnen «Bassins du Champs de Mars» auf dem Asphalt aufschlug. Ein amerikanischer Arzt leistete erste Hilfe, was ihm möglicherweise das Leben rettete. Er selbst erinnert sich nicht mehr an diesen Augenblick, weder an den Aufprall noch an die Schmerzen noch an das, was folgte.

Zwischen Leben und Tod 
Nur eine kurze Frequenz brannte sich in sein Gedächtnis ein: Er, seine Seele, über seiner physischen Hülle schwebend. Er konnte sich selbst beobachten, befand sich in einer Zwischenwelt – zwischen Leben und Tod. Fehlmann bezeichnet diesen Vorgang als «Prozess des Gehens», also das Verlassen der irdischen Welt. Auf die Frage, wie er diesen Moment erlebt habe, lächelt er besonnen und antwortet: «Schön. Für mich war es eine total schöne und schmerzfreie Situation.» Dennoch wollte er in seinen Körper zurückkehren. Er ist sich bis heute sicher, dass er sich bewusst für das Leben und gegen den Tod entschieden hat. Einschätzen, wie lange dieses «gehen» andauerte, kann Beat nicht. Das erste, an das er sich damals bewusst erinnern konnte, war eine fremde Gestalt an seinem Bettende. Es handelte sich um den Fahrer des Unfallfahrzeuges, welcher vorbeigekommen war, um sich vom Überleben des Verunglückten zu überzeugen. Als klar war, dass sich Fehlmann nicht mehr in Lebensgefahr befand, verschwand der Fremde und kehrte nie mehr zurück. Beat Fehlmann hält inne, zuckt mit den Schultern.

Verletzungen
Körperliche sowie seelische Schäden trug Beat einige davon: Lungenriss, Milzriss, Schlüsselbeinbruch, mehrere gebrochene Rippen und ausgeschlagene Zähne. Verletzungen, die erstaunlich schnell verheilten. «Wenigstens ist mir der Unfall in jungen Jahren passiert», fügt Fehlmann schmunzelnd an. «Ein junger Körper heilt viel besser als ein älterer.» Mehr als zwei Wochen befand er sich alleine auf der Intensivstation in Paris, seine Eltern kamen ihn nie besuchen. Zu gross waren die Unsicherheit und die Angst vor der riesigen, unvertrauten Metropole. Übelnehmen will er ihnen ihre Abwesenheit nicht. «Sie kannten nichts anderes als ihr kleines, heiles Dorf. Die Grossstadt hätte sie überfordert.»
Aufgrund seines Risses in der Lunge durfte Beat Fehlmann nicht nach Hause fliegen, weshalb er vom Rettungscorps Schweiz mit der Ambulanz in Paris abgeholt und über Landstrassen zurück in die Schweiz transportiert wurde. Doch sein Leidensweg war noch lange nicht zu Ende. Das Schlüsselbein war falsch zusammengewachsen und musste nochmals gebrochen werden, woraufhin Fehlmann erneut drei Wochen im Spital verbrachte. Nach weiteren zwölf Monaten aufwändiger Physiotherapie in Schinznach Bad war sein Körper ganz verheilt. Im Gegensatz zu den physischen Verletzungen verheilten die seelischen weniger gut. Er hatte einige Zeit mit inneren Dämonen zu kämpfen. Sein Blick verklärt sich, seine Stimme klingt bedrückt: «Ich konnte mich zwar nicht an den Unfall und die Unfallursache erinnern, aber irgendwo in meinem Unterbewusstsein habe ich den Vorfall gespeichert. Ich hatte einige Zeit grosse Mühe mit Menschengewirr, Verkehr und Chaos. Ich getraute mich nicht, eine Strasse zu überqueren, etwas in mir sträubte sich.» Dank seiner Freunde aus der Jungschar, die ihm Halt gaben und mit denen er über alles reden konnte, verarbeitete er sein Trauma. Er ist ihnen noch heute sehr dankbar für ihre Hilfe.

Das eigentliche Wunder 
Beat Fehlmanns Ansichten und seine Einstellung gegenüber dem Leben haben sich durch diese leidvollen Erfahrungen grundlegend verändert. Heute betrachtet er seine Rückkehr ins Leben als Geschenk und als zweite Chance. «Ich habe gelernt, das Leben zu schätzen und dankbar zu sein, aber auch, dass man unbedingt das machen soll, was einem Spass macht und man wirklich machen will. Sonst zieht die Zeit an dir vorbei und du hast nicht gelebt und wirst es bereuen.» Er meint, der Unfall liess ihn vor allem reifen. Als wir ihn fragen, welche Vorstellung er vor dem Unfall vom Leben und einem allfälligen Leben nach dem Tod hatte, antwortet er: «Ich hatte keine konkreten Vorstellungen. Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass ich als Jugendlicher kein schlechtes Bild vom Tod hatte. Diese neutrale Vorstellung vom Tod bestätigte sich mit dem Unfall. Er habe nun die Gewissheit, sagt er, dass Sterben nicht weh tue und er keine Angst davor haben müsse.
Natürlich möchten wir zum Schluss noch von ihm wissen, wem er sein Wunder, also seine Chance auf ein zweites Leben zu verdanken hat. Beat muss lachen und antwortet wie aus der Kanone geschossen. Er ist sich sicher, dass seine Wiederkehr kein medizinisches Wunder ist. Nicht die Ärzte, sondern eine höhere Macht hätte ihn gerettet. «Das eigentliche Wunder in meiner Geschichte ist, dass ich dem Tod und dem Leben danach so nahekommen durfte», sagt er und verfällt in Schweigen.

Von Fabian Hammesfahr und Marion Müller, G4L