Bildung, Essay, Sage & Schreibe Nr. 18

Die Kunst des Zeitverlierens

Beantwortung der Frage: Was ist Bildung?

Bildung ist der Eingang des Menschen zu einem selbstbestimmten Dasein im 21. Jahrhundert. Dasein meint Existenz, wie sie sich nackt dem eigenen Denken offenbart, sobald dieses auf sich selbst zurückgeworfen ist, sich ohne Netz und doppelten Boden wiederfindet (wiederzufinden hofft). Selbstbestimmt ist dieses Dasein mangels Alternativen: vivere aude! Wage zu wissen, finde die Gelassenheit, auf deine innere Stimme zu hören!, lautet also der Wahlspruch der Bildung.

Abgesehen von der Frage, ob Immanuel Kant Freude an dieser Umdeutung hätte – geht es auch einfacher? Und noch eine Frage, so zynisch wie berechtigt: Ist nicht längst viel zu viel über Bildung geschrieben worden? – Die Antworten lauten: ja und ja, na ja, ein Versuch sei noch erlaubt, in Ordnung? Und ich verspreche keine runde Sache, vornehmlich Unfertiges will ich hier auftischen, Fragmente und Widersprüchliches. Weil ich einerseits – zugegeben – gar nicht anders kann, andererseits aber auch weil ich glaube, dass die Beantwortung der Frage „Was ist Bildung?“ nur in Brüchen erfolgen kann, es wesentlich um die Lücken, grundsätzlich um das vermeintlich Nutzlose geht.

„Stoff“

Von wegen Ordnung: Vielleicht ist es angebracht, erst einmal abzuräumen, bevor ich den Tisch neu decke. Schon als Schüler hegte ich den Verdacht, Wissen und Bildung seien nicht dasselbe. Was uns an „Stoff“ verabreicht wurde, als wissenswert nicht nur angepriesen, sondern vielmehr als notwendiges Gut eingetrichtert wurde, verpuffte spätestens nach der darauf hin ausgerichteten Prüfung. Ich glaube, wir waren damals – das ist jetzt gut 25 Jahre her – allesamt mehr oder weniger gute Durchlauferhitzer. Aber gelangweilt waren die meisten, furchtbar gelangweilt! Und wir griffen zu anderen Stoffen: Sport oder Musik, Alkohol und Marihuana. Nein, ich will hier keine nostalgischen Gefühle wecken, Tatsache aber war: Eine Lehrperson begeisterte mich, zwei respektierte ich – der Rest ist Schweigen (nein, ich kann es mir nicht verkneifen: mit einigen führte ich regelrecht Krieg). Und jetzt, nunmehr seit gut acht Jahren, mache ich – wohlwissend um diese miserable Quote – selbst den Lehrer … was ist schief gelaufen?

Es gibt also ein Faktenwissen; weitverzweigt, spezifiziert und – abrufbar! So viel Wissen ist greifbar geworden. Zunächst, schon vor Jahrhunderten, lagerten wir es aus, Bibliotheken entstanden, dann digitalisierten wir die externen Speicher und schufen die Zugänge neu auf Knopfdruck, für jede und jeden. Ist es noch vorstellbar, dass eine Lehrperson so tut, als verfüge sie über ein Wissen, das den Schülerinnen und Schülern nirgends sonst zugänglich wäre? Und, jetzt kommt die weit schwierigere Frage, ist es noch vorstellbar, dass Lernziele dahingehend definiert werden, solcherlei Faktenwissen an Prüfungen einzufordern? – Gewiss, über den pädagogischen Wert des Auswendiglernens (Wiederkäuens, Recyclings) scheiden sich die Geister nicht erst seit heute. So wird immerhin das Gehirn trainiert, die Disziplin geschult, die Kompetenz des Sich-Hineinkniens gefördert – bravo! Ganz nebenbei wird damit auch die Überprüfbarkeit sichergestellt, das Muster von richtig und falsch zementiert. Das ist effizient. Ist es aber auch erstrebenswert?

Meditation gegen Verdummung

Ich erlaube mir, zwei Männer zu zitieren, weil ich in deren Aussagen Weisheit vermute (auch wenn ich mir selbst nicht im Klaren bin, was das ist). Zum einen den Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel aus seiner Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Theologische Fakultät der Universität Basel (25. November 2004): „Es geschieht etwas im Kopf beim Lesen, das nichts zu tun hat mit Inhalt und Information. Lesen hat immer wieder eine Spur von Meditation. Und die Schrift dient nicht nur der Fixierung des Mündlichen, die Schrift entführt das Mündliche in eine andere Welt, eine Welt übrigens, die Bologna und Pisa nicht angenehm sein kann, eine Welt, die andere Wertvorstellungen hat als Effizienz.“ – Und zum andern den Franzosen Jacques Rancière, emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik, aus seinem Buch Der unwissende Lehrmeister (Wien 2007): „Der pädagogische Mythos teilt, so sagten wir, die Welt entzwei. Man muss genauer sagen, dass er die Intelligenz zweiteilt. Es gibt, sagt er, eine niedrigere und eine höhere Intelligenz. Die erste nimmt durch Zufall wahr, behält, interpretiert und wiederholt empirisch im engen Kreis der Gewohnheiten und Bedürfnisse. Das ist die Intelligenz des kleinen Kindes und des Mannes des Volkes. Die zweite kennt die Dinge durch Gründe, sie geht methodisch vor, vom Einfachen zum Komplexen, vom Teil zum Ganzen. Sie erlaubt es dem Lehrmeister, seine Kenntnisse zu übermitteln, indem er sie den intellektuellen Fähigkeiten des Schülers anpasst und überprüft, ob der Schüler wohl verstanden hat, was er gelernt hat. Das ist das Prinzip der Erklärung, (…) das Prinzip der Verdummung.“

Wer die beiden Zitate gelesen hat, wird vielleicht akzeptieren können, dass ich diese nun nicht erkläre, und schon gar nicht in wenigen Worten; diesen Aussagen aber begegnen, das will ich schon, und also meinerseits behaupten: Das Scharnier zwischen Bildung und Wissen, so wenig ich die Begriffe bislang näher definiert beziehungsweise voneinander geschieden habe (weil ich es wohl nicht könnte), ist das Verstehen. Verstehen ist eines meiner liebsten Wörter; vorsichtshalber und korrekterweise spreche ich von Versuchen des Verstehens. Würde ich gezwungen, Bildung in wenigen Worten zu definieren, ich spräche von unablässigen Versuchen des Verstehenwollens (und jetzt habe ich auch noch das Wollen eingeschmuggelt …). Damit aber ist kein Ziel genannt! – Wenn es typografisch nicht schrecklich aussähe, nicht zu sehr als didaktischer Zaumpfahl wirkte, ich hätte diesen Satz am liebsten in Grossbuchstaben und gesperrt gedruckt – ich komme darauf zurück.

Unterwegs, fragend

Jetzt muss ich erst ein wenig näher auf das Wollen, Versuchen und Verstehen eingehen. Zunächst: das ist eigen. Kein menschliches, mit Bewusstsein begabtes Wesen will exakt dasselbe wie ein anderes. Die daraus folgenden Versuche sind so individuell wie das Verstehen (die Reflexion auf die Versuche, das Nachdenken). Das Verstehen jedoch wird aufgehoben, beansprucht für sich sodann intersubjektive Gültigkeit, will also auseinandergesetzt, seinerseits besprochen sein. So weit hergeholt wird die Vermutung nicht sein, dass aus dem menschlichen Wollen – meinetwegen aus seinem biologisch mitgegebenen Überlebenstrieb – und den damit einhergehenden Versuchen letztlich die Sprache entstand. Oder? Und ist etwas zur Sprache gebracht, setzt das Wollen von neuem ein, die Versuche, das Verstehenwollen … dabei versprach ich, die Dinge einfach zu halten. Kurzum, ich wollte lediglich sagen: Das Fragen kommt lange vor dem Antworten, schon einfach deswegen, weil vor jeder Antwort eine Frage steht, gestellt wird, im Zweifelsfall aus Notwendigkeit – denn das meint die Existenz. Mögliche Antworten (von denen es oft mehrere gibt) bestimmen die Essenz, die einem Dasein Konturen geben. Nehmen wir dieses Vorgehen – versuchsweise – als die Methode des Menschen, den Weg, den einer in seinem Denken und Handeln begehen (auf sich nehmen) kann, wäre dann ein solcher Weg – ein fragendes Unterwegssein – nicht identisch mit Bildung?

Und wenn wir, wie allzu verkürzt schon zu Beginn dieser Ausführungen behauptet, nackt unserem Denken ausgesetzt sind, ohne Schöpfer und Meister, ist es dann nicht angebracht, alle im Voraus angegebenen, vorgefertigten und gepriesenen Ziele erst einmal in den Wind zu schlagen?

„Erkenne dich selbst!“ – Wie alt ist diese Aufforderung eigentlich inzwischen, wie oft schon in Variationen wiederholt worden, und das in den unterschiedlichsten Sprachen? – Ist Bildung womöglich nur eine Ableitung aus dieser Aufforderung? Vielleicht aber wollte ich von Anfang an über den Aspekt des Vermittelns von Bildung sprechen, habe das nur nicht so klar gewusst, andernfalls hätte ich anfangs Platon zitiert, dann Rousseau, dann … Wenn es um die Vermittlung von Bildung geht, will ich nicht länger hinter dem Berg halten: Bildung ist kein Besitz, Bildung ist eine

Symbiose von Erfahrung und erarbeitetem Wissen, von Empfindungen und Überzeugungen, von Erziehung und Kultur – ein ständiges Unterwegssein. Sie ist ohne konkretes Ziel, trägt aber zur Persönlichkeit bei, aus ihr folgt eine Haltung. Wer sich bildet, nährt die Seele, schult sein Bewusstsein und schärft den Blick. Schaut also nicht nur auf das, was ihm angeboten wird, sondern fragt auch nach dem, was fehlt. Agiert zuweilen, anstatt nur zu reagieren – und wird im besten Fall kreativ.

Bildung ist also eine Eigenschaft und ganz bestimmt etwas, was nicht konsumiert werden kann. Bildung ist immer an das eigene Denken, das eigene Tun geknüpft. Ohne Initiative, ohne Selbstbestimmung (welch gewaltiges Wort!) wird nichts draus, aus dem Menschen, meine ich. – Wie lässt sich das vermitteln?

Kleckern und klotzen

Vielleicht so: Wissen vortragen – nur nebenbei; Erklärungen abgeben – so wenig wie möglich; Aufmerksamkeit fördern – mit allen Mitteln. Zeigen und anbieten, in Frage stellen, noch besser: zu Fragen anregen, versuchsweise Wege einschlagen, das Scheitern nicht partout verhindern, zuweilen fördern – und feiern! Denken lassen, tun lassen; eigenes Unwissen zur Disposition stellen, selbst die Rolle des Lernenden annehmen. Und so weiter.

Ich glaube, es liegt nicht an der Unwissenheit der Lehrperson, dass es auf so viele Fragen keine klaren Antworten gibt, es liegt entweder an unserem begrenzten Erkenntnisvermögen oder dann an der Komplexität der Welt; daran, dass eben doch vieles noch immer, noch heute unberechenbar, unklar oder gar mysteriös ist. Und gerade diese Unwägbarkeiten machen ein Leben spannend, machen den Reiz aus: sich denkend den Umständen und Sachzwängen, den Verheerungen und Überraschungen zu stellen – und nicht zuletzt sich selbst. Es gilt, alles daran zu setzen, wegzukommen von schwarz oder weiss, von richtig oder falsch. Nicht nur weil wir mehr Freude daran haben, sondern weil ich auch glaube, dass es uns weiterbringt: hinschauen, zuhören, spielen und kleckern, zuweilen protzen und klotzen … und ab und an beherzt, befreiend lachen. So stelle ich mir das vor: den Pädagogen als das, was in ihm steckt seit Alters her – als Begleiter.

Schöne Geschichte, nicht wahr? Der Verdacht liegt nahe, dass wir von dieser fruchtbaren Freude noch ein gutes Stück weit entfernt sind. Dabei geben auch jüngste neurowissenschaftliche Ergebnisse den alten Ideen des Sich-Zeit-Lassens, des Müssiggangs und der Gelassenheit Recht: Aufmerksamkeit ist ein rares Gut, sie reicht nur immer drei bis fünf Minuten, dann braucht das Hirn eine Pause – „Es gehört zur hohen Kunst guter Lehrender, diesen Umstand in Rechung zu stellen“, schreibt der ausgewiesene Fachmann für Verhaltenspsychologie und Entwicklungsneurologie Gerhard Roth in seinem Werk Bildung braucht Persönlichkeit (Stuttgart 2011). Was allerdings den Eigenschaften des Hirns noch weit mehr zuwiderläuft, sind Stundentafeln, die am selben Tag vier, fünf oder noch mehr unterschiedliche Unterrichtsfächer vorsehen – das macht unser Kopf nicht mehr mit, da wird das Meiste gleich wieder gelöscht. Schon erstaunlich, dass die allermeisten Schulen aus diesen Erkenntnissen noch keine Konsequenzen gezogen haben.

Einfacher gesagt: Was sich setzen, sich einprägen soll, braucht Zeit (nicht zuletzt auch einen guten und nicht zu kurzen Schlaf). Weniger Stoff also, diesen dafür von verschiedenen Perspektiven bedacht, begangen, gewälzt und vertieft – und handgreiflich gemacht, wenn’s geht. So liesse sich doch auch heutzutage ein Leben, ein selbstbestimmtes Dasein angehen. Oder?

PS. Dass das Verhältnis Schüler-Lehrer (alle anderen Geschlechterkombinationen mit eingeschlossen) meiner Überzeugung nach immer eine besondere Art eines Beziehungsdelikts und also massgeblich für das Wollen, Versuchen und Verstehen – und zwar beiderseits – ist, habe ich eigentlich nicht unterschlagen wollen, es fand aber in diesem Text irgendwie keinen Platz … vielleicht aber im nächsten.

Von Markus Bundi