2024, Sage & Schreibe Nr. 38, Startbeitrag

Die letzte Generation in der Zeitenwende? 

Geschichte ist eine Rekonstruktion der Vergangenheit. Das lernen alle meine Schülerinnen und Schüler in den ersten Geschichtsstunden. Nur ist das mit der Rekonstruktion so eine Sache. Denn jede Rekonstruktion hat auch mit Interpretation und politischen Interessen zu tun. So ist es wenig erstaunlich, dass es beispielsweise nicht die eine Rekonstruktion des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gibt. Vielmehr haben der russische Präsident, die grosse Mehrheit der Russinnen und Russen, aber auch viele der sogenannten «Putin-Versteher» hier im Westen eine andere Version der Geschichte als neutralere Betrachter. Wenn Rekonstruktion also nicht faktenbasiert geschieht, haben wir es nicht mit historischen Wahrheiten, sondern mit Geschichtsklitterung zu tun, mit Fake News und letztlich mit politischer Propaganda. Grundsätzlich wirken sich Umdeutungen von historischen Fakten nicht nur auf die Gegenwart aus, sondern sie sind auch eminent zukunftswirksam. Dies ist gerade angesichts einer zu befürchtenden neuen Teilung der Welt in Demokratien und autoritäre bis totalitäre Diktaturen problematisch, befördert aber auch massiv die Spaltung innerhalb der westlichen Gesellschaften.

Von Sebastian Grüninger, Lehrer für Geschichte

Selbstverständlich sind politische Blockbildungen und Spaltungstendenzen in pluralistischen Gesellschaften nicht neu; im Gegenteil: sie sind wesentlicher Bestandteil davon Ich erinnere mich gut an das Schreckgespenst Sowjetunion, das vor allem im bürgerlichen Lager heraufbeschworen wurde, aber auch an dessen Gegenstück, die tatsächlichen und vermeintlichen neoimperialistischen Bestrebungen der USA, die im Kalten Krieg vor allem vom linken Lager angeprangert wurden. Abhängig von der politischen Gesinnung ganz unterschiedlich gedeutet wurden etwa auch die Fakten im Zusammenhang mit dem Fichenskandal, den Jugendprotesten der 1980er-Jahre oder der frühen Umweltbewegung im Zuge von Waldsterben und Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Emotionen, politische Propaganda und Demagogen gab es schliesslich bereits im Alten Athen.

Im Zuge der medialen und gesellschaftlichen Digitalisierung und Algorithmisierung bekommt die interessengeleitete Rekonstruktion von Geschichte aber eine ganz neue Qualität. Vor dreissig Jahren wusste man noch, von welchen Zeitungen was zu erwarten war, oder man glaubte es zumindest. Heute ist die Gemengelage einigermassen unübersichtlich. Zum einen hat sich die Tonlage im politischen Diskurs deutlich verschärft, zum andern kommt insbesondere in digitalen Echokammern eine zunehmend menschenverachtende Gesinnung offen zum Ausdruck. Gesinnung ist alles in einer Gesellschaft, die sich vom Versuch einer möglichst neutralen Rekonstruktion von Geschichte verabschiedet hat. Denn Gesinnung braucht heutzutage kaum noch Argumente, kaum Fakten – und Geschichte, wie sie einem gefällt. Im postfaktischen Zeitalter wird Gesinnung von Emotionen generiert. In diesem Zusammenhang stellen sich unangenehme Fragen: Was geschieht dort, in diesen digitalen Echokammern, weitgehend unter Ausschluss der breiten Öffentlichkeit? Wer steuert die Algorithmen heute und in Zukunft? Wie entwickelt sich diese «Kommunikationskultur» weiter und wie wirkt sie sich auf Gesellschaft und Politik aus?

Da ich kein Hellseher, sondern nur Historiker bin, habe ich keine schlüssige Antworten auf diese Fragen. Klar aber scheint mir, dass von unserem Umgang mit den Herausforderungen der digitalen Welt und der Globalisierung nichts weniger als der Zusammenhalt unserer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft abhängt.

Viele Politiker und Forscherinnen rechnen damit, dass wir in Zukunft mit weniger Sicherheiten leben müssen: Der lebenslange fixe Job ist für die meisten längst Geschichte, die Rentensicherheit scheint zu wanken, aus den Armuts- und Konfliktgebieten Afrikas und Asiens drängen mit periodischen Ausschlägen immer mehr Menschen in unser mitteleuropäisches Paradies, selbst die seit Jahrzehnten andauernde Friedenszeit in der westlichen Welt scheint akut bedroht: Auch nach zwei Jahren noch führt Putin einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine, seit dem Spätsommer schwelt der Kosovo-Konflikt wieder bedrohlich, und am 7. Oktober hat die radikal-islamische Hamas das demokratische Israel mit nie gekanntem palästinensischem Terror attakiert und damit den nahöstlichen Dauerkonflikt zum erneuten Krieg ausgeweitet.

Zu alledem kommt der Klimawandel. Haben wir bereits die ersten «Kipp-Punkte» erreicht, welche eine immer stärkere Beschleunigung der Erderwärmung unumkehrbar machen? Zumindest ein Teil der Wissenschaft behauptet das, und keine ernstzunehmende Institution ist der Meinung, dass wir noch viel Zeit für wirksame Gegenmassnahmen haben. Was erwartet unsere Schülerinnen und Schüler? Werden sie tatsächlich die «letzte Generation» sein, wie es eine Gruppe von Klimaaktivist/-innen behauptet? Wann werden die ersten Flüchtlinge bei uns eindeutig als «Klimaflüchtlinge» einzustufen sein, und wie gehen wir mit ihnen um? Beunruhigenderweise haben die oben genannten politischen Konflikte dieses mindestens so zukunftsrelevante Thema teilweise aus den Schlagzeilen verdrängt, trotz Rekordhitzesommer und Extremwetterereignissen.

Düstere Aussichten, so scheint es. Und sowieso: Früher war alles besser.

Nein, war es nicht! Noch nie gab es in den westlichen Gesellschaften so viele individuelle Gestaltungsmöglichkeiten, so viele denkbare Lebensentwürfe, so viele neue Perspektiven wie heute. Auch wenn gewisse Tendenzen wie etwa das konsequente Gendern, Klimakleben, Ernährungstrends oder Körperkult so manches Gemüt erhitzen – die Gesellschaft soll und kann diese und viele weitere Entwicklungen zulassen. Werte wandeln sich – und das ist gut so! Denn so wird Zukunft. Schön, dass wir uns heute noch nicht vorstellen können, was die Zukunft noch alles an Ideen, kulturellen Leistungen und Spielarten von Geschmack und Lifestyle für uns bereithält.

Schon jetzt jedenfalls ist zu erkennen, dass unsere Schülerinnen und Schüler vieles für selbstverständlich halten, woran ältere Jahrgänge sich erst noch gewöhnen müssen: Online-Dating, das Vordringen des Englischen in Alltags- und Bildungssprache, die Digitalisierung von immer mehr Bereichen des Lebens, der achtsame Umgang mit Queerness aller Art – die Aufzählung könnte fast beliebig weitergeführt werden.

Es ist wohl kein Zufall, dass solche Entwicklungen in den autoritär geführten wertekonservativen Staaten unterbunden werden durch Zensur, Diskriminierung und Verfolgung. Wir sind gut beraten, solche rückwärtsgewandten Tendenzen nicht unsere Zukunft bestimmen zu lassen.

Dann besteht die berechtigte Hoffnung, dass wir auf guten Wegen in die Zukunft gehen; dann kann es uns gelingen, einen Umgang mit den neuen digitalen Kommunikations- und Informationsformen zu finden, der sich wieder vermehrt an Fakten orientiert und die Gesellschaft nicht weiter spaltet; dann werden sich bei allen Herausforderungen, vor die uns die multipolare Weltordnung stellt, auch Chancen zeigen, gerade für Schwellenländer und bisher unterprivilegierte Regionen des globalen Südens; dann dann sind die schrecklichen Ereignisse in Israel und Palästina nicht nur eine Zäsur im Nahost-Konflikt, sondern auch ein Wendepunkt hin zu einer positiven Entwicklung, an deren Ende die friedliche Koexistenz von Israelis und Palästinensern steht; dann, schliesslich, nutzen wir die Energieprobleme, die uns aus den vielfältigen Konflikten erwachsen, zur konsequenten und schnellen Dekarbonisierung,

Es gibt also durchaus Anknüpfungspunkte für Optimismus: Voraussetzung dafür ist jedoch zweifellos, dass die Teilhabe an den Errungenschaften und Möglichkeiten der Moderne in den Regionen sowie den sozialen Milieus dieser Welt zunimmt und nicht verhindert wird. Nur so können wir sicher sein, dass die «Letzte Generation» mit ihrer apokalyptischen Zukunftsvision nicht Recht behält.

Bild: Hanna Siegel