You’re here because you know something. What you know you can’t explain. But you feel it. You’ve felt it your entire life. That there’s something wrong with the world. You don’t know what it is but it’s there, like a splinter in your mind driving you mad. (The Matrix, 1999)
Von Michael Schraner, Musiklehrer
Ich stand mit abgesägten Hosen da. Nach einem verbalen Schlagabtausch im kleinen Kreis. Eigentlich wäre Gemütlichkeit angesagt gewesen bei der Zusammenkunft über die Festtage. Aber es ging dann halt doch um Politik, um Grenzen und Migration, um Gender und Umverteilung, um Schmarotzer und Superreiche, um freie Märkte und Steuern. Ich war nicht in der Lage, die Lawine an Parolen argumentativ zu entkräften.
Es ist so unglaublich anstrengend, die Dinge differenziert anzuschauen und all die Widersprüche auszuhalten. Das Erlebnis im kleinen Kreis fühlte sich plötzlich so grundsätzlich an. Die Splitter der entgegengeschleuderten Parolen steckten in meinem Kopf. In solchen Momenten kommt sie jeweils richtig auf Touren, die innere Stressmaschine. Sie produziert eine düstere und bedrohliche Brühe. Diese Brühe kocht unaufhaltsam hoch. In ihr schwimmen schwer verdauliche Klumpen.
I.
Im Jahr 1958 erschien die Sci-Fi-Satire The Rise of Meritocracy des Soziologen und Politikers Michael Young. Der Autor skizziert eine zukünftige Gesellschaft, wo die Position des Einzelnen durch Intelligenz und Leistung bestimmt wird. Die daraus entstandene Leistungsgesellschaft mit elitärer Herrschaft endet in Youngs Erzählung im Jahr 2034 mit der Revolte der Populists gegen die meritokratische Elite.
Der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel beschäftigt sich mit den Auswüchsen unserer Leistungsgesellschaft und beobachtet eine zunehmende Tendenz zur Meritokratie. Letzlich fürchtet er um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. The Tyranny of Merit, befürchtet er, führe konsequenterweise zum Ende des Gemeinwohls:
It has a dark side. Meritocracy is corrosive of the common good. It leads to hubris among the winners and humiliation among those who lose out. It encourages the successful to inhale too deeply of their success, to forget the luck and good fortune that helped them on their way. And it leads them to look down on those less fortunate, less credentialed than themselves. This matters for politics. One of the most potent sources of the populous backlash is the sense among many working people that elites look down on them. [ Michael Sandel: The Tyranny of Merit in einem Ted Talk, Mai 2020 ]
Oft bin ich fassunglos, mit welcher Gewalt dieser Graben dank der asozialen Aufmerksamkeitsmaschinen stetig vertieft und verbreitert wird. Mit Hass und Hetze. Schuld sind die anderen. Wer nicht meiner Meinung ist, ist mein Feind!
II.
A small percent of people live in a real-world environment that is rich, even overflowing, with glorious substance, beautiful settings, plentiful stimulation, and many fascinating people to talk to, and to work with, and to date. […] Everyone else, the vast majority of humanity, lacks Reality Privilege – their online world is, or will be, immeasurably richer and more fulfilling than most of the physical and social environment around them in the «real world».
Nein, dieses Zitat ist weder The Matrix entnommen, noch stammt es aus einem Roman von Aldous Huxley. Es sind Worte von Marc Andreessen, geäussert im Rahmen eines schriftlich geführten Interviews auf der Plattform Substack am 31. Mai 2021 mit Niccolo Soldo (ein Pseudonym). Andreessen erfand den Webbrowser und predigt als superreicher Unternehmer und Vertreter der Effective Accelerationism-Bewegung in seinem Techno-Optimist Manifesto (2023) freie Märkte und die unbeschränkte Weiterentwicklung von Technologie, vor allem KI, mit geradezu religiöser Inbrunst, während er Konzepte wie Nachhaltigkeit oder soziale Verantwortung verdammt. Der US-Autor Jonathan Taplin schreibt in The End of Reality (2023) über vier Tech-Milliardäre– nebst Andreessen sind es Mark Zuckerberg, Elon Musk und Peter Thiel –, die seiner Ansicht nach mit dem Metaverse, mit Kryptowährungen, der Eroberung des Mars und dem transhumanistischen Traum vom ewigen Leben eine existentielle Gefahr für unser Zusammenleben darstellen. Ich frage mich verzweifelt, wer endlich eine Pille gegen den Gottkomplex erfindet!
Bild: Michael Schraner, Staatsgalerie Stuttgart
III.
In der Kurzgeschichte The Machine Stops aus dem Jahr 1909 (ja, wirklich!) beschreibt E.M. Forster eine von Technik beherrschte Welt, in der alle Menschen isoliert in einem unterirdischen, standardisierten Raum leben und als einzige Tätigkeit mittels Instant-Messaging-Video Ideen austauschen. Eine allmächtige globale Maschine befriedigt alle körperlichen und spirituellen Bedürfnisse. Als die Maschine kollabiert, endet auch die menschliche Zivilisation.
«I have called you before, mother, but you were always busy or isolated. I have something particular to say.» –
«What is it, dearest boy? Be quick. Why could you not send it by pneumatic post?» […] – «I want you to come and see me.» Vashti watched his face in the blue plate. «But I can see you!» she exclaimed. «What more do you want?» –
«I want to see you not through the Machine,» said Kuno. «I want to speak to you not through the wearisome Machine.» –
«Oh, hush!» said his mother, vaguely shocked. «You mustn’t say anything against the Machine.» –
«You talk as if a god had made the Machine,» cried the other. «I believe that you pray to it when you are unhappy.
Men made it, do not forget that.» [ E.M. Forster: The Machine Stops ]
In seinem Wochenkommentar auf YouTube erläuterte der Autor und Medienwissenschaftler Matthias Zehnder am 10. Februar 2023, Warum die KI zum Tod des Internets führen wird. Nein, er meinte nicht den Tod des technischen Protokolls, sondern das Internet als Medium mit seinen Inhalten. Die künstliche Intelligenz schiebe sich mit ihren Zusammenfassungen und Kurzantworten zwischen die fragenden Benutzer und die professionellen Informationsanbieter, so Zehnder. «Die KI wird nicht mit Zwang arbeiten. Sie wird bloss so verführerisch angenehm sein und uns so freundlich ihre Dienste anbieten, dass wir sie alle nutzen werden. Und dann passiert mit unseren Gehirnen dasselbe, was in den letzten hundert Jahren mit unseren Körpern passiert ist: Wir werden geistig träge und verfetten im Kopf.»
Was geschieht mit uns, wenn wir den Eindruck haben, dass die Maschine uns besser versteht als der Freund oder die Nachbarin? Wann werden wir dieser totalen Verführung erlegen sein?
Wie soll man so einen Text abschliessen? Irgendetwas mit Hoffnung, vielleicht. Ein Gegengewicht zu dieser verklumpten inneren Unruhe, diesem Gefühl der Machtlosigkeit und Unausweichlichkeit. Diese letzten Zeilen schreibe ich während der Musikwoche mit dem Kantiorchester und -chor im Januar. Hier erarbeiten rund einhundert Schülerinnen und Schüler nicht nur eine Oper, die wir im März gemeinsam aufführen werden, sondern sie planen, gestalten, diskutieren, spielen Karten, üben weitere Stücke, die sie sich während der abendlichen Klangfenster vorspielen. Sie schauen miteinander und zueinander, eingelullt im Nebel oberhalb des Neuenburgersees, geschützt vor der Welt da draussen.
You take the blue pill, the story ends, you wake up in your bed and believe whatever you want to believe. You take the red pill, you stay in Wonderland, and I show you how deep the rabbit hole goes… [ The Matrix, 1990 ]
Hier am Neuenbuergersee muss ich mich für keine Pille entscheiden. Die Stressmaschine ist in dieser Woche im Flugmodus. Die Brühe köchelt auf kleiner Flamme, die Klumpen stossen weniger auf.