2018, Essay, Sage & Schreibe Nr. 28, Wunder

Der Wunder-Wissenschaft-Dualismus

Das Wunder aus einem naturwissenschaftlichen Blickwinkel oder: Ein unvollständiger Essay über geteilte Meere, unscharfe Teilchen und Wellen, Eisbohrkerne – und Entropie.

Als Naturwissenschaftler neige ich dazu, Wunder als spannende Rätsel zu betrachten, die es zu lösen gilt. Das tun Naturwissenschaftler schon seit Jahrhunderten: Gnadenlos suchen sie nach rationalen Ursachen von Phänomenen, die man sich noch nicht erklären kann und zerstören so Wunder um Wunder.

Aber eines nach dem anderen: Am Anfang jeder wissenschaftlichen Arbeit steht die Definition dessen, was man untersuchen will. Im vorliegenden Fall könnte ich den Duden zurate ziehen, der mir das Wunder als «aussergewöhnliches, den Naturgesetzen oder aller Erfahrung widersprechendes und deshalb der unmittelbaren Einwirkung einer göttlichen Macht oder übernatürlichen Kräften zugeschriebenes Geschehen, Ereignis, das Staunen erregt» verkauft oder als «etwas, was in seiner Art, durch sein Mass an Vollkommenheit das Gewohnte, Übliche so weit übertrifft, dass es grosse Bewunderung, grosses Staunen erregt». Gekauft!
Wenn ich nun davon spreche, dass Naturwissenschaftler durch ihre Arbeit Wunder zerstören, dann meine ich damit, dass sie stets bestrebt sind, dem Anschein nach Unerklärliches zu entmystifizieren und scheinbare Widersprüche zu Naturgesetzen aufzulösen. Und das tun sie mit grossem Erfolg: Wer würde heute noch Blitz und Donner dem Zorn der Götter zuschreiben oder sich erschrecken, wenn er ein Feuer im Wald oder gar ein Flugzeug am Himmel sieht. Selbst die Reise zum Mond ist ein alter Hut. Älter als ich. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass es heute Menschen gibt, die daran zweifeln, dass Moses das Meer geteilt hat oder dass Jesus Blinde heilen konnte. Generell scheint der Siegeszug der Naturwissenschaften in unseren Breitengraden jeglicher Art von Aberglauben und ebenso dem religiösen Glauben irreversiblen Schaden zugefügt zu haben.

Es grenzt denn auch beinahe an ein Wunder, dass es heute noch Naturwissenschaftler gibt, die sich zum Glauben an eine höhere Macht bekennen. Wie kommt das? Zunächst sind Naturwissenschaftler Menschen und als solche nicht grundsätzlich immun gegen die Faszination scheinbarer oder – sofern tatsächlich existent – wirklicher Wunder. Und steht nicht am Anfang jeder Neugier etwas Unbekanntes und bislang Unerklärliches oder eben ein Wunder? Ist es in der Folge nicht sogar so, dass der Wunsch nach Enträtselung wundersamer Beobachtungen der eigentliche Antrieb jedes Forscherdranges ist? Ich meine: ja.

Es gab eine Zeit, in der viele Wissenschaftler dachten, die Welt im Wesentlichen verstanden zu haben und dass es sich bei allem, was bis dahin noch unklar war, nur um Details handeln konnte, die sich bei ausreichender Auseinandersetzung mit der jeweiligen Materie als Nichtigkeit herausstellen würden, jedoch keinesfalls als Wunder. Das war gegen Ende des 19. Jahrhunderts, bevor die damals breit akzeptierten naturwissenschaftlichen Theorien durch Einsteins Relativitätstheorie und die rätselhafte Quantenphysik in ihren Grundfesten erschüttert wurden. Plötzlich mussten sich die Physiker mit einer natürlichen, nicht überwindbaren Geschwindigkeitsschranke, mit Elementarteilchen, die sich seltsamerweise wie Wellen ausbreiten, oder mit Raumzeitkrümmungen, die unsere Vorstellungskraft übersteigen, auseinandersetzen. Alle diese Phänomene konnten mit den bis dahin erdachten Theorien nicht erklärt oder vorhergesagt werden. Und damit nicht genug: Als Krönung postulierte Werner Heisenberg die nach ihm benannte Unschärferelation, die bis heute und wohl auch in Zukunft eine unüberwindbare Erkenntnisgrenze darstellt.

Den Mathematikern erging es in dieser Hinsicht nicht besser. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versetzte der Mathematiker Kurt Gödel seine Fachkollegen mit dem Beweis mehrerer unfassbarer Sätze in einen bis heute anhaltenden Schockzustand. Gödels erster Unvollständigkeitssatz besagt, dass jedes System von Axiomen, das ausdrucksstark genug ist, die «gewöhnliche» Mathematik (die sogenannte Peano-Arithmetik) zu beschreiben, unvollständig ist. «Unvollständig» heisst hier, dass innerhalb dieses Systems Sätze formuliert werden können, die man weder beweisen noch widerlegen kann. Der zweite Unvollständigkeitssatz ist noch verheerender: Dieser besagt nämlich, dass in einem solchen System nicht einmal die Widerspruchsfreiheit des Systems beweisen werden kann. Das mag im ersten Augenblick so klingen, als wäre das zwar etwas ärgerlich, aber ansonsten nicht weiter schlimm. Tatsächlich hatten diese Sätze aber nicht nur ganze Lebenswerke auf dem Gewissen; auch das Fundament der exaktesten aller Wissenschaften steht mit dieser Entdeckung auf wackligen Beinen, insbesondere weil es in der Tat sich gegenseitig widersprechende Sätze gibt, bei denen man beweisen kann, dass man sie nicht beweisen kann.

Diese Beispiele machen deutlich, dass Wunder oder zumindest der Glaube an Wunder auch in einer modernen Welt nicht ernsthaft in Gefahr sind. Trotz des grossen Erfolges der Mathematik und der Quantenphysik bleiben sie beide rätselhaft, oder, wie wahre Geniesser sagen würden, wundervoll. Und wen wundert es, wenn angesichts der wissenschaftlich erwiesenen Unzulänglichkeiten der wissenschaftlichen Disziplinen zuweilen auch Naturwissenschaftler nicht alleine in ihrer Forschung, sondern ebenso in ihrem Glauben nach Antworten suchen? Eine gesunde Portion Skepsis und (Aber-)Glaube kann die Fantasie beflügeln, was gerade dann wahre Wunder bewirkt, wenn man bei der Suche nach der Lösung eines komplexen Problems nicht mehr weiterkommt.

Übertreiben sollte man es mit Ausflügen in die Fantasiewelt allerdings nicht. Auch wenn uns die Natur gewisse Wahrheiten vorenthält, so ist das noch kein Grund für einen prinzipiellen Zweifel an breit abgestützten und mehrfach reproduzierten Forschungsergebnissen. Wir sind heute in der Lage, die Welt mit einer noch vor 100 Jahren unvorstellbaren Präzision zu beschreiben. So messen wir beispielsweise Gravitationswellen von kosmischen Ereignissen in einer Entfernung von 100 Millionen Lichtjahren mit einer relativen Längenänderung der Grössenordnung 10-22. Um sich ein Bild von dieser Zahl zu machen, kann man in Gedanken die Erde zu einem kleinen Sandkorn schrumpfen lassen. Verkleinert man das Sandkorn dann noch einmal um den gleichen Faktor, so dürfte man in die Nähe dieser Grössenordnung gelangen. Bei solchen Zahlen wundert es umso mehr, dass FakeNews und der amtierende US-Präsident, die den Klimawandel leugnen, sich einer beachtlichen Fangemeinschaft erfreuen, bei der sie mehr Gehör finden als die überwältigende Mehrheit der weltweit führenden Klimaforscher. Als wären diese nicht in der Lage, eine CO2-Konzentration in der Grössenordnung von gerade einmal 10-4 oder den über die historische Entwicklung Aufschluss gebenden CO2-Gehalt von Eisbohrkernen zu messen. – Glücklicherweise verharren nicht alle Menschen in einer Wunderwelt, in der die Erderwärmung nichts mit unserem Verhalten zu tun hat. Doch obwohl die Klimadiskussion längst in aller Munde ist, tut sich bislang diesbezüglich zu wenig. Wieso?

Ich erlaube mir, die Frage auf eine ungewohnt abstrakte Ebene zu heben, indem ich mich zum Schluss einem weiteren potentiellen Wunder widme: der Existenz des Lebens. Es ist doch seltsam, dass in einem Universum, in dem die Entropie, die als Mass für die Unordnung eines Systems verstanden werden kann, stets zunimmt, eine hochgradig geordnete Struktur wie der Mensch überhaupt existieren kann. Was hier auf den ersten Blick paradox erscheint, ist nicht mehr ganz so widersprüchlich, wenn wir uns kritisch selbst betrachten und beobachten, was wir mit der Welt anstellen. Bei aller dem Menschen innewohnenden Schöpfungskraft produzieren wir in der Bilanz doch deutlich mehr Unordnung als Ordnung. Das fängt beim Nahrungsverzehr an und endet im von uns verursachten Klimawandel. Umso mehr wäre es für mich ein echtes Wunder, wenn es uns irgendwann gelänge, über unsere biologischen und geistigen Beschränkungen hinauszuwachsen und anzufangen, für die Welt, in der wir leben, Verantwortung zu übernehmen.

Von Roger Sax, Physiker und Mathematiklehrer