Essay, jung&politisch, Sage & Schreibe Nr. 21

Die AKSA und Ihre Schülerinnen und Schüler in bewegten Zeiten

Der Deutsch- und Philosophielehrer Roland Latscha über seine Kantizeit 1970–1974

„Es liegt in der Natur der Sache, dass die Schülerinnen und Schüler heute anders sind als wir vor mehr als vierzig Jahren. Auch gibt es heute durchaus solche, die sich ausserschulisch engagieren, etwa in Umweltfragen oder im sozialen Bereich. Im Unterschied zu damals gibt es in meiner Wahrnehmung weniger ein unmittelbares Engagement im politisch-öffentlichen Bereich. Ich sehe auch keine offene Präsenz einer politisch-avantgardistischen Gegenkultur zum Establishment, die es zu meiner Zeit von einigen Schülerinnen und Schülern zumindest im Ansatz gegeben hat. In meiner Zeit an der Alten Kanti hatte man sich bewusst anders gekleidet, trug lange Haare und markierte nach aussen seinen Willen zur Abgrenzung.

Ich möchte nicht von einer apolitischen Generation von heute sprechen, das wäre falsch, aber vielleicht sind die politischen Herausforderungen nicht mehr so unmittelbar benennbar wie in meiner Mittelschulzeit – wenn man sich den Zustand der Welt insgesamt ansieht allerdings schon! Einige von uns hatten damals eine betont pazifistische Grundeinstellung, vor allem aufgrund des Vietnamkriegs; die Präsenz der Kasernen wurde dementsprechend als Provokation und Stein des Anstosses gesehen. Wir wollten uns auch bewusst von unserer Väter- bzw. Elterngeneration abgrenzen. Das will die heutige Schülergeneration, so jedenfalls mein Eindruck, wohl weniger extrem, als wir das zum Teil deutlich gemacht hatten. Dies kann man natürlich aus dem politischen Klima der 1960er, zu Beginn der 1970er Jahre erklären: Eine extreme Auflehnung gegen das, was die Generation der Eltern darstellte, und die gesellschaftliche und politische Ordnung, die sie verkörperten – ‚Kampf gegen das Establishment und irgendwelche Autoritäten‘ hiess die Losung. Dabei war natürlich die damalige Pop- und Protestkultur wichtig. Insbesondere im Zusammenhang mit Woodstock hatte man das aus heutiger Sicht schwärmerisch-utopische Gefühl, nun breche etwas völlig Anderes auf, Love and Peace bestimme zukünftig die Welt. Und diese Überzeugung trug man in die Öffentlichkeit und versuchte sich in entsprechenden Formen des Zusammenlebens – das Reizwort hiess ‚Kommune‘. Damit einher ging auch eine freiere Sexualität, möglich geworden durch die Pille.

Man sympathisierte mit einer anderen Auffassung von Staat, las Mao und Marx, Rudi Dutschke, Herbert Marcuse und befasste sich mit der Frankfurter Schule – man sympathisierte gar mit anarchistischen Vorstellungen eines Bakunin. Kurzum, wir wollten immer die neuste politische Literatur lesen, einige hatten zum Beispiel auch Maos Rotes Büchlein auf dem Nachttisch.

Auf Ebene der Schule kämpften wir damals für einen Schülerrat. Den gab es in den frühen 1970ern nicht. Man traf sich über Mittag zu Vollversammlungen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Wenn man den heutigen Schülerrat anschaut, wissen wohl deren Mitglieder nichts mehr über dessen Entstehung und wie umstritten diese Forderung von Seiten der Schülerschaft einmal war. Damals forderten wir ein Mitspracherecht und das Aufbrechen herkömmlicher Schulstrukturen, einen fächerübergreifenden Unterricht. Das Resultat war dann vor allem das Experiment in Form einer Experimentalklasse (gebildet aus interessierten Viertklässlern). Dieses Experiment hing auch mit Ansätzen in der Reformpädagogik zusammen, die zum Teil von Lehrern an der Alten Kanti in die Diskussion eingebracht wurde. Ich war zu meinem Leidwesen noch etwas zu jung, um am Schulversuch der Experimentalklasse mitzumachen, wo während eines Jahres neue Unterrichtsformen auf der gymnasialen Oberstufe entwickelt und erprobt wurden. Der Kanton Aargau war damals offen für gewisse schulische Reformprojekte, man konnte sich der reform-pädagogischen Diskussion nicht einfach entziehen. Dieser Wunsch nach Veränderung wurde von einem beträchtlichen Teil der Schülerinnen und Schüler in irgendeiner Weise getragen, aber auch von einigen Lehrpersonen, die dadurch teilweise politisch unter Druck kamen. So gab es eine Vernehmung wegen Maoismus-Verdachts von angeblich „Roten Lehrern“ – damals ein wirklicher politischer Skandal in unserem Kanton.

Ein Redaktionsteam eine Schülerzeitschrift mit dem Namen Zeus heraus, wo nicht nur Schülerinnen und Schüler sich zu Wort meldeten, sondern sich auch Lehrpersonen in die Diskussion mit Beiträgen einbrachten. Damit versuchten wir, unsere Vorstellung einer breiten Diskussionskultur an die Kanti zu holen. Darüber hinaus wurden sogenannte ‚Vollversammlungen‘ abgehalten, nach dem Vorbild engagiertere Studenten an den Unis. Das damalige Schlagwort in diesem Zusammenhang war: ‚basisdemokratische Grundstrukturen und freie Meinungsäusserung‘. Das hiess vor allem, dass wir mitbestimmen wollten, auch wenn es um die Gestaltung des Unterrichts ging. Dies hat natürlich zu Meinungsverschiedenheiten mit gewissen Lehrpersonen geführt; es gab aber auch Lehrpersonen, die unsere Anliegen im Rahmen des Möglichen unterstützten. Auch war damals das heutige Musikhaus (Fehrhaus) für eine kurze Zeit ein Treffpunkt für Schülerinnen und Schüler. Dort ging man ein und aus. Das Erscheinungsbild der Alten Kanti war in meiner Erinnerung etwas farbiger als heute. Und obwohl wir teilweise einen recht autoritären Unterricht erlebten, waren wir engagiert und interessiert an Veränderungen.

Ein Unterschied zu heute ist, dass die Studentenverbindungen mehr Mitglieder im Vergleich zu heute hatten und sie entsprechend präsent waren und natürlich weniger Teil der geschilderten Protestkultur waren. Aber es gab auch da schillernde Figuren, die sich sowohl in der einen als auch in der anderen Szene bewegten. Ich erinnere mich, dass die Studentenverbindungen Bälle hatten, worüber wir andern uns immer lustig machten. Einen Kantiball, wie es ihn heute gibt, wäre für uns damals undenkbar gewesen. Das wäre uns viel zu steif gewesen. Wir suchten mehr das Experimentelle, zeigten teilweise selbst zusammengeschnittene 8mm-Filme. Vor allem die aktuelle Popkultur war wichtig. Wir holten bekannte Bands ans alljährliche Kantifest. Dieses fand in den Schulzimmern statt, im Neubau (Karrerhaus), im Einsteinhaus. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Aber es hat funktioniert. Mutwillige Zerstörungen von Einrichtungen gab es nicht. Ich war jeweils im Veranstaltungskomitee und hatte dafür grosszügig eine Woche schulfrei. Wir bekamen einen Schlüssel für alle Zimmer und bauten abends die Dekoration und Infrastruktur auf, um den Schulbetrieb am Tag nicht zu stören. Das Fest war jeweils am Samstag und das Ereignis an der Schule.

In Zeiten vor Internet und Smartphone waren Flugblätter das Kommunikationsorgan. Diese wurden teilweise mit Schnapsmatrizen selbst gedruckt und lagen dann auch im Schulhaus und auf dem Areal herum. Heute ist die AKSA dagegen geradezu clean in dieser Hinsicht, nicht zuletzt deshalb, weil ganz andere mediale Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

Aarau insgesamt war in den 1970er Jahren in meiner Wahrnehmung lebendiger als heute. Es gab eine vielfältigere Beizenkultur als heute, zum Beispiel legendäre Beizen wie die an der Riviera im Schachen oder die Brötlibar im Affenkasten, die über die Region hinaus bekannt war. Die Brötlibar im ‚Aff‘ war der Treffpunkt, da sassen wir schon als Schülerinnen und Schüler, und auch danach haben wir uns dort getroffen. Es war ein Stelldichein von Künstlern, Intellektuellen, Leuten aus den unterschiedlichsten Schichten und unterschiedlicher politischer Überzeugung. Leider gibt es diese Bar nicht mehr. Es gab auch ein angriffiges politisches Kellertheater in Aarau, dessen Aufführungen und Aktivitäten politisch nicht unumstritten waren. Ferner ist die Gruppe Ziegelrain, eine Gruppe von Künstlern, zu nennen, die eine Faszination ausübte auf einige von uns. Diese Gruppe – unter anderem mit dem Künstler und ehemaligen AKSA-BiG-Lehrer Max Matter – strahlte als künstlerische Avantgarde schweizweit aus und verhalf in jener Zeit Aarau zu einem künstlerischen Aufbruch. Einige von uns waren sehr an Kunst interessiert. Ich selbst hatte das Glück, bei Josef Herzog, einem Mitglied der Gruppe, das Fach Zeichnen zu besuchen. Eine Begegnung, die mich über die Kantonsschule hinaus bis heute geprägt hat. Er ist später zu einem engen Freund geworden und leider vor einigen Jahren viel zu früh verstorben.

Heute schmunzelt man über vieles im Rückblick, einiges ist auch in seiner Bedeutung zu relativieren. Aber wir wollten damals einfach etwas Neues – vieles ausprobieren. Der eine oder andere ging sogar nach der Kanti nach Indien, um die alte Kultur hinter sich zu lassen und eine neue zu entdecken. Dabei spielten oft auch Drogen eine Rolle. Nicht wenige kamen desillusioniert zurück.

Wie gesagt, es war eine völlig andere Zeit, in der wir im oft jugendlichen Übermut dachten, wir könnten die Welt aus den Angeln heben und etwas besser und gerechter machen. Daher auch dieser damalige Antireflex gegen die Elterngeneration und das Überkommene, Ewig-Gestrige, für das sie standen. Und so rumorte es in den 1970er Jahren in der Provinzstadt Aarau und ihrer Alten Kanti ein wenig … zumindest im Untergrund.“

Aufgezeichnet von Sebastian Grüninger (anlässlich eines rund dreissigminütigen Gesprächs im Rahmen der Recherche zum Essay in diesem Heft)