Wie sinnvoll und also wie lebenswert ist die menschliche Existenz in einer Welt ohne Gott? – Die Frage nach dem Sinn, so gestellt, ist dann eben keine religiöse, sondern eine eminent philosophische. Und eine, die schon viele Denker umgetrieben hat, weil es keine allgemeingültige Antwort darauf gibt.
In der abendländischen Philosophie ist die Frage nach dem Sinn immer wieder gestellt worden: die Frage nach dem Sinn von allem Sein, dem Sinn in der Welt oder allgemein dem Sinn im Leben. Dahinter steckt die Auffassung einer Ganzheit, Alleinheit. Bekanntlich haben diejenigen, die den Sinn gefunden haben, entsprechende Antworten und keine Fragen mehr. Der ureigenste Antrieb des Philosophierens ist allerdings, Fragen zu stellen – ähnlich den Kindern, die nicht in einer Welt von Antworten, sondern in einer Welt von Fragen leben.
Der Akzent ist in den folgenden fragmentarischen Überlegungen im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn auf zwei Beispiele von Philosophen konzentriert, die sich nicht auf einen sinnstiftenden Gott beziehen. Die Erfahrung der (Lebens-)Welt ist in diesem denkerischen Ansatz nicht die eines Sinnganzen, sondern die einer Sinnentleerung.
Friedrich Nietzsches Verdikt, dass Gott tot ist, könnte in diesem Zusammenhang herbeizitiert werden. Gemäss seiner Forderung müssen alle alten Sinnvorstellungen überwunden werden. Wie immer man zu dieser Negierung der Vorstellung eines Jenseits bei Nietzsche steht (die Annahme einer jenseitigen Welt hinter der Welt ist für ihn die Lebenslüge schlechthin), so ergibt sich daraus als konsequentes Weiterdenken, dass der bis anhin existierende Mensch untergehen muss und an dessen Stelle der neue Mensch als «Übermensch» entstehen soll; und mit ihm gehen alle tradierten bisherigen (abendländischen) Werte und Normen zugrunde. Nur so wird der (neue) Mensch frei. Für diesen kann es einzig die Normen und Werte geben, die er sich selbst schafft, und zwar kraft seiner eigenen Potenz, seines eigenen Willens beziehungsweise dem «Willen zur Macht».
Im 20. Jahrhundert hat sich Albert Camus mit Nietzsches Ansatz beschäftigt. Zentral ist für ihn die Erfahrung des Absurden der eigenen Existenz und der Welt. Für Camus stellt sich die Frage nach dem Sinn angesichts der existentiellen Situation des modernen Menschen in grundsätzlicher Art und Weise. Auch er sieht, wie Nietzsche, den Menschen in eine gottlose Welt gestellt. Zugespitzt ist mit Camus zu fragen, ob im Angesicht des Absurden jedes Trachten nach Sinn letztlich zum Scheitern verurteilt sei. Im Gegensatz zu Nietzsche geht Camus davon aus, dass dem Menschen der «Wille zur Macht» versagt bleibt und das Trachten nach Sinn dementsprechend ein vergebliches Bemühen ist. So bleibt in der Suche nach Sinn zumindest auf den ersten Blick nur Resignation und Verzweiflung. Tatsächlich stellt sich im Existieren automatisch die Erfahrung des Absurden ein. Entsprechend erfährt der Mensch die Welt nicht als ein Sinnganzes, sondern als etwas ihm Fremdes, nicht Zugängliches, als etwas ohne Sinn und Zweck.
Die Vernunft weiss um ihr Verlangen nach Sinn. Aber zugleich ist dieses Wissen Quelle der Verzweiflung, weil die Sehnsucht sich nicht erfüllt. Denn jedes Existieren ist vom Wunsch getragen, Ziele zu verwirklichen, durch die dem eigenen Leben ein Sinn gegeben wird. Solches Trachten der Vernunft nach Einheit und Sinn wird so selbst zu etwas Sinnlosem. In letzter Konsequenz ist damit mit Camus die zentrale philosophische Frage nach dem Selbstmord gestellt. – Inwiefern lohnt es sich also, noch zu leben? Das Klima des Absurden unterwirft alles der Sinnwidrigkeit, ebenso den Anspruch des Menschen nach Sinn. Es gibt allerdings bei Camus einen Wert, der immer gilt: den Wert des menschlichen Lebens. Dieser gründet in der Tatsache, dass im menschlichen Bewusstsein selbst die Gewissheit des Absurden verortet ist. Gemeint ist Folgendes: Immer, wenn das Verlangen nach Sinn mit der Sinnwidrigkeit der Welt konfrontiert und in sich zurückgeworfen wird, stellt sich die Erfahrung des Absurden ein. Ohne das Bewusstsein wäre dies freilich nicht möglich. Die Sinnwidrigkeit des Absurden trifft also nicht auf das Bewusstsein selbst zu, es kann dieses selbst nicht negieren (andernfalls würde sich das Absurde selbst aufheben). Kurzum: Nur existierende, lebendige Menschen haben ein Bewusstsein. Damit finden wir eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn: das menschliche Leben, wie es Camus versteht, hat einen Sinn, der der Sinnwidrigkeit des Absurden eben nicht unterworfen ist (zumal ja das Bewusstsein zugleich die Bedingung des Absurden ist). Das menschliche Leben ist weiter der einzige Wert im Klima des Absurden, der dem eigenen Leben einen Sinn zu geben vermag. Die beiden mythologischen Figuren Sisyphos und Prometheus zeigen dies bei Camus exemplarisch auf: Sisyphos muss einen Felsbrocken einen Berg hinaufwälzen; allerdings rollt der Stein, ohne oben liegen zu bleiben, immer wieder den Berg hinunter. Trotz dieser Mühsal findet Sisyphos einen Sinn in seinem Leben. In Camus’ «Der Mythos von Sisyphos» lesen wir: «Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende.» Und der letzte Satz in der Passage über Sisyphos lautet: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» In diesem Ja-Sagen hat die Mühsal von Sisyphos (als Sinnbild und als Analogie des modernen Menschen) tatsächlich kein Ende mehr. Und warum sagt der Mensch nicht Nein? Weil es, nach Camus, dadurch eben unmöglich wäre, Glück, Sinn und Identität zu finden. Denn dies alles hängt ja mit der Untrennbarkeit des Absurden von der Existenz des Menschen zusammen, wie aufgezeigt wurde. Aber es ist kein schicksalsergebenes Ja-Sagen, sondern Sisyphos hat seine (aussichtslose) Lage in ihrer ganzen Dimension erkannt. Zugleich setzt er auf das eigene Bewusstsein und damit auf das menschliche Leben als einen unzerstörbaren Wert, auf den das Absurde keinen Zugriff hat. In diesem setzenden Akt besteht seine Freiheit. Darauf bezieht sich sein Ja. Und darin äussert sich auch seine Forderung, seinem Leben einen Sinn zu geben.
Was hat es aber mit dieser Freiheit auf sich? Das Klima des Absurden ist nach wie vor eine existentielle Grunderfahrung und eine Tatsache. Der Stein wird nie oben liegen bleiben, sondern wird immer wieder ins Tal rollen. Also ist diese Freiheit letztlich doch nur eine Illusion? Camus folgert, indem er auf das Schicksal von Sisyphos hinweist, dass seine «ganz verschwiegene Freude» darin bestehe, dass «sein Schicksal» ihm gehöre und «sein Fels» «seine Sache» sei. Die Akzentuierung im Possessivpronomen ist hier entscheidend. Die Strafe der Götter verliert dadurch ihre zermürbende und entwürdigende Wirkung als Ausdruck einer völligen Sinnentleerung. So findet Sisyphos einen Sinn in seinem Leben, eine Identifikation mit dem Hier und Jetzt.
Leben ist an sich schon «ein Werturteil», wie Camus in «Der Mensch in der Revolte» schreibt. Das Leben bedarf allerdings einer ständigen Bejahung, Anstrengung im Denken, Handeln und Fühlen. – Wenn diese Erfahrung und Einsicht bestimmend ist, kann der Mensch seinem Leben durch ein entsprechendes permanentes Bemühen einen Sinn geben.
Von Roland Latscha, Deutsch- und Philosophielehrer an der Alten Kanti, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Luzern