Alte Kanti, Sage & Schreibe Nr. 21

Die Regeln regeln

Eine Weiterbildungsveranstaltung zum Thema Disziplin und Verbindlichkeit an der Alten Kantonsschule Aarau

Wer immer sich mit Fragen der Disziplin, der Verbindlichkeit oder gar der pädagogischen Autorität beschäftigt, begibt sich auf gefährliches Terrain. Da lauern Pauker und Kuschelpädagogen, verklärte Erziehungswissenschaftler und nicht zuletzt jede und jeder von uns. Denn sind wir nicht alle ein bisschen Pädagoge? Eigenes Erleben als Schüler und Schülerinnen, Erinnerungen an pädagogische Hassobjekte und vielleicht sogar an den einen oder anderen Lieblingslehrer haben unsere Vorstellungen von Schule geformt: Schulalltag, Wissenschaft und Öffentlichkeit befinden sich nicht zuletzt deshalb in einem angespannten Diskurs, wenn es um Fragen der Disziplin und Verbindlichkeit in Schule und Erziehung geht.
Dabei stehen sich zwei Gruppen gegenüber: Entweder man hält alles, was mit Autorität und Disziplin zu tun hat, für gefährlich und kontraproduktiv, oder man versteht Autorität als nötige Voraussetzung des Zusammenlebens. Dass dabei gerne Reizwörter wie Laisser-faire, Kasernenhof-, oder Puddingpädagogik medienwirksam eingesetzt werden, trägt nicht zur Versachlichung der Diskussion bei. Wenn es ein durchaus populistisches Werk wie Bernhard Buebs Lob der Disziplin (2006) mit rund 400’000 verkauften Exemplaren auf die Bestsellerlisten schafft, ein riesiges Medienecho auslöst und alarmierte Erziehungswissenschaftler auf den Plan ruft (vgl. Brumlik, Hrsg., Vom Missbrauch der Disziplin, 2007), dann zeugt das von der ungebrochenen Aktualität und Breitenwirkung des Themas.

Auch an der Alten Kantonsschule Aarau beschäftigt man sich aktuell mit Fragen der schulischen Disziplin und Verbindlichkeit, denn mittlerweile sind Lehrpersonen aller Stufen nicht nur mit fachlich-didaktischen, sondern vermehrt mit pädagogischen und disziplinarischen Herausforderungen konfrontiert, die das Hinterfragen bestehender Meinungen und Haltungen erfordern. Die Schulleitung der AKSA hat deshalb eine Arbeitsgruppe „Disziplinarisches und Verbindlichkeit“ eingesetzt, die sich des Themas unter Einbezug des Lehrkörpers und der Schülerschaft angenommen hat. Entstanden ist der Entwurf eines neuen Disziplinarkonzeptes, das am 17. März anlässlich der gesamtschulischen Weiterbildung präsentiert wurde.

Keine Anleitung zum Unglücklichsein – die Sicht der Arbeitsgruppe Disziplin und Verbindlichkeit
Der Konzeptentwurf „Disziplin und Verbindlichkeit“ versteht sich eher als Anleitung denn als Vorschrift. Er enthält zwei Schwerpunkte: Einerseits setzt er stark auf Prävention und Früherkennung, andererseits auf Kommunikation, wobei insbesondere die Kommunikation unter den Lehrpersonen gemeint ist. Ein umfassendes Regelwerk im Sinne eines Wenn-dann-Strafenkatalogs wird dabei bewusst nicht angestrebt. Ein solcher Katalog ist in der Handhabung schwerfällig, schränkt ein und kann den vielfältigen Ausprägungen von möglichen disziplinarischen Verstössen nicht gerecht werden. Die vorgeschlagenen Massnahmen sind deshalb auf ein Minimum beschränkt. Zudem sollen sie einfach, einheitlich durchführbar, akzeptiert sowie nachhaltig sein.

Man hat die Probleme, die man sich schafft – die Sicht der Schüler und Schülerinnen
„Schärfere Sanktionen“, „einheitliche Regelungen“, „leicht umsetzbare Massnahmen“ – Aussagen, die man spontan eher nicht von Jugendlichen erwartet, bilden tatsächlich den Tenor der Äusserungen des befragten Teils der Schülerschaft der AKSA: In Interviews mit Schülerinnen und Schülern der Abschlussklassen wurde die Meinung der Schülerschaft zur Thematik eingeholt. Die Befragung ergab deutliche Ergebnisse: Die Schülerinnen und Schüler wünschen sich vor allem klare Kommunikation der Regeln im Voraus. Sie plädieren für eine konsequente und sofortige Umsetzung der Massnahmen bei problematischem Verhalten, sie wollen schärfere Sanktionen im Wiederholungsfall sowie, im Sinne der Gleichbehandlung, eine einheitliche Regelung für gewisse Bereiche, zum Beispiel bei Verspätungen. Die befragten Schüler und Schülerinnen verorten das Problem in der teilweise mangelnden Kommunikation zwischen den Lehrpersonen. Ebenfalls bemerkt wurde die Inkonsequenz, mit der ein Zuviel an Regeln zum Teil nicht durchgesetzt werde.

„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ – die Sicht des Neuropsychologen
Im Referat des Neuropsychologen Prof. Dr. Lutz Jäncke erfährt die Schülerschaft indirekt Unterstützung. Wenn nämlich aus kleinen, süssen Knuddelwesen plötzlich grosse Nervensägen werden, dann ist der Frontallappen schuld. Dieser Gehirnbereich reift bis ins 20. Lebensjahr und ist in den Jahren der Pubertät eine einzige Grossbaustelle. Beim besagten präfrontalen Kortex handelt es sich ausgerechnet um jenen Bereich, der die Selbstkontrolle steuert: Aufmerksamkeit, Disziplin, strukturiertes Handeln oder auch Urteilsvermögen gehören dazu. Den Jugendlichen fehle, so Jäncke, schlicht noch die nötige „Hardware“, die es zur Steuerung der eigenen Verhaltensweisen brauche.

Bleibt der Lehrerschaft da nur noch die Kapitulation vor der hirnphysiologischen Realität unausgereifter, dafür total entfesselter Frontalkortices? Nein, Lehrpersonen müssen ihre Vorbildfunktion wahrnehmen und auch konkret auf Regelverstösse reagieren – und zwar nicht nur aus Gründen des Selbstschutzes: Gemäss Jäncke sollen Lehrerinnen und Lehrer sogar – bitte nicht bildlich vorstellen! – zuweilen die Funktion des ausser Rand und Band geratenen Frontallappens übernehmen. Als Bremse für im Überschuss vorhandene Emotionen nehmen Lehrpersonen ihren Erziehungsauftrag wahr. Sie tragen so zur Strukturierung des Alltages der Studierenden bei und zeigen ihnen durch geeigneten Unterricht Möglichkeiten zur Selbstmotivation auf.
Lehrpersonen als Ersatzfrontalkortex oder Spassbremsen – wie auch immer man es sehen mag: Ein taugliches Disziplinarkonzept ist für diesen Aspekt von Schule und Unterricht unerlässlich. Der Konzeptentwurf befindet sich nun in einer ersten Phase der Vernehmlassung durch die Lehrerschaft. Arbeitsgruppe und Schulleitung werden sich in einem nächsten Schritt mit den Anregungen aus dem Kollegium auseinandersetzen. Die Umsetzung ist auf das Schuljahr 2015/16 geplant.

Barbara Amsler, Deutschlehrerin

Quellen:
Micha Brumlik (Hrsg.).: Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb. Beltz, Weinheim und Basel 2007.
Roland Reichenbach: Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung. Kohlhammer, Stuttgart 2011.
Die Angaben im Abschnitt „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ stammen aus dem gleichnamigen Referat von Prof. Dr. Lutz Jäncke (gehalten am 17. März 2015, Alte Kantonsschule Aarau und http://www.beobachter.ch/dossiers/jugend-pubertaet/artikel/pubertaet_denn-sie-wissen-nicht-was-sie-tun/).