Essay, Im Fokus, jung&politisch, Sage & Schreibe Nr. 21

Links – rechts – vorwärts – Matur!

Ein Essay zur Frage: Wie viel Politik erträgt eine Mittelschule?

Sebastian Grüninger, Geschichtslehrer

„Ihr, liebe Schüler, tut mir wirklich leid: Schon zu meiner Mittelschulzeit versuchten mich meine Lehrer dauern politisch zu beeinflussen!“ – Mit diesen Worten wandte sich ein Exponent einer grossen Schweizer Partei vor Jahren in der Aula einer Aargauer Kantonsschule – nicht der AKSA – an sein Podiumspublikum, nachdem er mit scharfen Worten die Neutralität des moderierenden Geschichtslehrers in Zweifel gezogen hatte. Sollte ich mich über den Redner ärgern? Mich für meinen Kollegen auf dem Podium schämen? Ich war jedenfalls heilfroh, dass ich im Publikum sass und nicht in seiner Haut steckte.
Auch Jahre später hallt mir der Satz zuweilen nach, wenn ich vor einer Klasse stehe und mit ihr über Politik spreche bzw. Politische Bildung unterrichte, wie es heute heisst. Wie weit darf ich als Lehrer meine Meinung preisgeben? Nach dem auch in der bildungsföderalistischen Schweiz beachteten, in Baden-Württemberg der 1970er Jahre formulierten Beutelsbacher Konsens hat sich die Lehrperson im Unterricht neutral zu verhalten, die politischen Themen kontrovers und schülerzentriert zu behandeln.1
Muss die häufige Schülerfrage „Und was denken Sie darüber?“ nach geschlagener Debatte also immer unbeantwortet bleiben? Kann man Mittelschülern kurz vor oder nach der Erreichung des Mündigkeitsalters allenfalls zutrauen, dass sie eine klar als solche deklarierte Meinungsäusserung einordnen können? Sollten und wollen Sie sich gar am politischen Profil der Lehrperson reiben? Im Beutelsbacher Konsens wird denn auch nicht explizit die Meinungsäusserung verboten, sondern die „Überwältigung“ der Schülerinnen und Schüler, die Indoktrination. Doch wo beginnt diese?
Was heisst überhaupt neutral bleiben? Bin ich neutral, wenn ich vor Abstimmungen der Ausgewogenheit halber brav Weltwoche und Wochenzeitung (WoZ) anschleppe, weil hier Pro- und Kontra besonders prägnant formuliert werden? Oder unterstreiche ich damit primär die Extrempositionen? Ist strikte Zurückhaltung tatsächlich bei jeder politischen Diskussion angemessen – selbst dann, wenn mit Hilfe zweifelhafter historischer Metaphern genau jene Grundsätze bekämpft werden, die ich im Unterricht ansonsten als Errungenschaften der Aufklärung und Früchte eines zweihundertjährigen Kampfes um Freiheits- und Menschenrechte zu preisen gewohnt bin? Was gebietet mir da mein Fachwissen und was verbietet mir die political correctness? Wo endet persönliches Profil und wo beginnt unangemessene Beeinflussung?

„Man hört es nicht selten, dass Lehrpersonen sich nicht trauen, dass sie das Gefühl haben, eine politische Meinung dürfe an der Schule nicht thematisiert werden.“2 – Béatrice Ziegler, Dozentin und Co-Leiterin des Zentrums für Demokratie Aarau, hat diesen Satz zwar eher auf die Volksschule gemünzt, das damit angesprochene Dilemma ist aber zweifellos auch auf die Mittelschule übertragbar, wo Politische Bildung in diversen Schulfächern und über den eigentlichen Unterricht hinaus einen grossen Stellenwert besitzt und direkt oder indirekt in den Lehrplänen festgeschrieben ist.
Dies mussten denn auch drei Schülerinnen erfahren, die für ihren Artikel in diesem Heft „Wie politisch ist die AKSA?“ eine Umfrage durchführten: Als sie Lehrpersonen ihre politische Einstellung von links bis rechts deklarieren liessen, erhielten sie verschiedentlich Rückmeldungen bezüglich der politischen Brisanz einer Publikation dieser Resultate. Sind dies also Tabufragen? Ist hier gar Selbstzensur angebracht? Die in besagtem Artikel nachlesbaren Resultate der Umfragen bei Lehrer- und Schülerschaft geben bezüglich dieser Bedenken Entwarnung.

Zweifellos ist die Altersstufe unserer Schülerinnen und Schüler sehr bedeutsam für deren politische Laufbahn. Etwa auf halbem Weg zur Matur erreichen alle Studierenden die Mündigkeit und die Schweizerinnen und Schweizer damit das Stimm- und Wahlrecht. Dass dieses Recht auch wahrgenommen wird, belegt eine kürzlich erfolgte Umfragen unter Schülern der AKSA: Von 180 Stimm- und Wahlberechtigten gehen rund zwei Drittel, nämlich 124 angeblich oft bis regelmässig an die Urne, 31 immerhin gelegentlich und lediglich 25 geben an, selten bis nie abzustimmen. Von insgesamt 568 Befragten geben beinahe 47 Prozent an, zumindest gelegentlich politische Artikel in Zeitungen zu lesen, 8 Prozent tun dies oft bis regelmässig. Fast 60 Prozent sehen oder hören gelegentlich, 12 Prozent oft bis regelmässig Sendungen mit politischem Inhalt. Dies scheint das verbreitete Klischee von einer desinteressierten, politikfernen heutigen Jugend für viele unserer Schülerinnen und Schüler zu widerlegen. Doch dazu mehr in anderen Artikeln in diesem Heft („Wie politisch ist die AKSA?“ und „Zwischen Smartphone und Smartmob“).
Als Geschichtslehrer erkenne ich bei vielen Schülerinnen und Schülern genau in dieser Zeit einen Quantensprung, was politische Interessen und Informiertheit betrifft. Doch welche Rolle spielt dabei die Schule? Auch wenn die Datenmenge pro Klasse stark unterschiedlich ist, scheinen die befragten Schülerinnen und Schüler mit zunehmendem Alter mehr davon überzeugt zu sein, die Schule habe einen positiven Einfluss auf ihre politische Standortsuche, während andererseits eine abnehmende Anzahl keinen Einfluss der Schule erkennen mag. In diesem Bereich der Persönlichkeitsentwicklung unserer Schülerinnen und Schüler trägt die Schule also selbst im Urteil der Schülerinnen und Schüler eine Mitverantwortung, und es ist zweifellos wichtig, sich ihrer bewusst zu sein. Der Artikel „Wie politisch ist die AKSA?“ in diesem Heft legt allerdings einen entspannten Umgang unserer Schülerinnen und Schüler mit diesem Thema nahe und auf jeden Fall darf die Bedeutung der Schule für die politische Sozialisation nicht überschätzt werden. Dies ist gleichzeitig ernüchternd und entlastend.

Wie steht es aber mit der Mitsprache und Beteiligung unserer Studierenden an der Gestaltung des Schulbetriebes? Bei dieser Frage wird man zuallererst an den ständig serbelnden bzw. trotz Wiederbelebungsversuchen von Seiten der Schulleitung kaum wahrnehmbaren Schülerrat erinnert.
Zwar war Aarau nie das jugendbewegte Zürich, und doch erinnern sich ältere Semester unter den Lehrpersonen an Schulversuche mit gleichberechtigt zwischen Lehrpersonen und Schülerschaft ausgehandelten Programmen in den 1970er Jahren oder an das heutige Musikhaus/Fehrhaus, in dem sich damals weitgehend unbehelligt durch die Schule eine studentische Subkultur entwickeln konnte – eine Gegenwelt zum geordneten Schulalltag. Im Schularchiv liegt ein ganzer Stapel linksradikaler Flugblätter, die ein Schulleiter in den Schulhausgängen aufgesammelt hatte, und auf der anderen Seite des politischen Spektrums waren die Studentenverbindungen ungleich präsenter und aktiver als heute.
Weshalb geht heute wenig in diese Richtung? Sind unsere Schüler also doch unpolitisch und angepasst? Lässt die AKSA einfach zu wenig Raum für Initiativen aus der Schülerschaft? Oder bieten die vor einigen Jahren eingeführten Feedbacks zu Schule und Unterricht genügend Raum zur Einbringung von Anliegen und Kritik? Ist Feedbackkultur die politische Beteiligung der Generation Like? Können sich unsere Schülerinnen und Schüler tatsächlich mit dem „Liken“ bzw. „Disliken“ von Lehrpersonen und ihrem Unterricht zufriedengeben? – Viele tun dies auf jeden Fall nicht, sondern setzen sich auf unterschiedliche Art für politische Anliegen ein. Oft geschieht dies ausserhalb der Schule, in Jungparteien oder anderen Organisationen im Dienst der Öffentlichkeit, und sogar auf Demonstrationen sind sie teilweise anzutreffen. Dazu aber mehr im Artikel „Zwischen Smartphone und Smartmob“. Aber auch innerhalb der Schule ist Engagement zu erkennen, etwa in vielen Diskussionen im Unterricht oder bei den zahlreichen Autorinnen und Autoren, die völlig eigenständig Artikel für dieses Heft verfassten.

Was aber trägt die Schule zur Förderung des politischen Engagements unserer Schülerinnen und Schüler bei? Dass politische Bildung heute mehr ist als die traditionell unter Staatskunde verstandene Verfassungs- und Institutionenlehre, macht die Sache zwar aufwändig, aber dafür umso vielseitiger. Sie zielt heute neben einem möglichst tiefen Verständnis konkreter politischer Mechanismen unserer Demokratie sowie zentralen Aspekten der internationalen Politik vor allem auf die aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler an politischen Prozessen ab. Auch wenn politische Bildung vornehmlich in den Lehrplänen der Fächer Geschichte sowie Wirtschaft und Recht einen eigens deklarierten breiteren Raum einnimmt, so werden politische Fragestellungen zweifellos auch in zahlreichen anderen Fächern aufgegriffen, in Naturwissenschaften genauso wie in Geistes- und Sozialwissenschaften. So wird beispielsweise von der Fachschaft Deutsch nun schon zum dritten Mal nach den Vorgaben von Schweizer Jugend debattiert mit allen Zweitklässlern ein Debattentag durchgeführt, dem jeweils eine eingehende Einführung in die Spielregeln politischer Debatten vorangeht. Auf Vermittlung des Zentrums für Demokratie Aarau wird im August 2016 zum zweiten Mal von einer externen Firma das Simulationsspiel „Politik – Macht – Gesetz“ mit allen Drittklässlern durchgeführt, das den Gesetzgebungsprozess simuliert. Auch die Austauschprogramme mit einer Mittel- und Wirtschaftsschule in Neuchâtel dienen einem wichtigen politischen Anliegen innerhalb unserer Demokratie, der Verständigung über den Röstigraben hinweg. Ob sich aus der Städtepartnerschaft mit Reutlingen in Baden-Württemberg die Möglichkeit eines regen Austauschs in den EU-Raum entwickelt, wird die Zukunft weisen. Bereits jetzt wird interessierten Schülerinnen und Schülern der Zugang zum Europäischen Jugendparlament vermittelt (siehe Artikel „Vier Mal Georgien und zurück“).
Inzwischen wird das zweite Jahr das Freifach Politische Bildung angeboten, in dem zur Zeit fast vierzig Schülerinnen und Schüler jeweils in den Mittagsstunden über Abstimmungsvorlagen debattieren, aktuelle Konflikte oder den „Cyberwar“ näher beleuchten, Planspiele spielen oder Einwohnerräte und Kampagnenleiter von Parteien empfangen und befragen. Dazu kommt die Organisation und Moderation von Podien, in diesem Monat etwa zur Aargauer Asylpolitik mit Regierungsrätin Hochuli und Grossrätin Gautschy vom Gemeindeamännerverband. Schliesslich werden auch auswärtige Institutionen besucht, wie das Bundeshaus, die Sendung Arena, die Demokratietage des Zentrums für Demokratie Aarau oder bereits vor der Eröffnung die Demokratie-Ausstellung im neu umgebauten Stadtmuseum (Schlössli).
Die Zusammenarbeit mit vielen interessierten und engagierten Schülerinnen und Schülern im Freifach sowie im obligatorischen Fachunterricht ist äusserst motivierend und lässt die eingangs erwähnten Rollenkonflikte für gewöhnlich in den Hintergrund treten.