2018, Essay, Im Fokus, Sage & Schreibe Nr. 27, Sinn

Die vier Sinne des Menschen

Wenn im Wald ein Feuer brennt, können wir das mithilfe unserer Sinne feststellen, was uns in verschiedenen Szenarien einen evolutiven Vorteil bringen kann. Das Feuer werden wir aber nie in seiner Gesamtheit erfassen können. Dafür sehen wir gelbe Flammen züngeln und hören ein Knistern, obwohl das Feuer genau genommen weder Farben besitzt noch Geräusche erzeugt. Wie kommt’s?

Unsere Umwelt, ob leblos oder belebt, besitzt bestimmte physikalische und chemische Qualitäten, abhängig von Ort und Zeit. Elektromagnetische Strahlung, Temperatur, die Gesamtheit der vorhandenen Moleküle, Drucke von Gasen, Flüssigkeiten oder Feststoffen sowie elektrische und magnetische Felder bilden eine objektive Wirklichkeit, die uns umgibt. Da es, wie eingangs erwähnt, vorteilhaft sein kann, diese Umwelt wahrzunehmen, besitzen wir heute verschiedene Sinne, die sich im Laufe der Stammesgeschichte entwickelt haben. Am Ursprung der Sinneswahrnehmung stehen dabei immer Sensoren für diese unterschiedlichen Qualitäten unserer Umgebung, die Sinneszellen.

Selektive Wahrnehmung der Welt

Wer aber glaubt, dass wir uns daher ein objektives Bild unserer Umwelt machen können, irrt. Wir wären gar nicht in der Lage, die dazugehörige Informationsmenge zu verarbeiten. Vielmehr nehmen wir selektiv nur diejenigen Umweltreize wahr, welche wahrscheinlich von Nutzen sein können. So besitzen wir für elektrische Felder gar keine Sinnesorgane, im Gegensatz etwa zu Haien, welche mithilfe der Lorenzinischen Ampullen solche Felder erkennen, dadurch Muskelkontraktionen von Beutetieren wahrnehmen und diese so orten. Auch für magnetische Felder sind wir «blind»; Zugvögel hingegen besitzen dafür im Schnabel einen eigenen Kompass.

Des Weiteren funktionieren unsere Sinneszellen, die eigentlichen Sensoren, jeweils nur in einem kleinen Bereich des tatsächlich vorhandenen Spektrums. Röntgenstrahlung oder Mikrowellen zum Beispiel können wir nicht sehen, da unser Auge nur Licht mit Wellenlängen zwischen 400 und 700 nm wahrnimmt. So eingeschränkt unser Sehbereich ist, er bringt einen erheblichen Nutzen mit sich, da ein Grossteil der Sonnenstrahlung und damit viele Informationen über unsere Umwelt genau in diesem Bereich liegt. Nicht bei allen Tieren ist das Sehvermögen auf denselben Bereich beschränkt. Boas beispielsweise können dank eines speziellen Organs langwelligere Wärmestrahlung wahrnehmen und somit warmblütige Beutetiere auch im Dunkeln sehen. Bienen wiederum erkennen kurzwelligere, ultraviolette Signalfarben auf verschiedenen Blüten, was ebenfalls die Nahrungssuche erleichtert.

Von dieser sehr eingeschränkten Informationsmenge, die unsere Sinnesorgane überhaupt registrieren, passiert weniger als ein Promille den Thalamus-Filter im Zwischenhirn. Nur was als bedeutsam eingestuft wird, erreicht das Grosshirn und wird so von uns bewusst wahrgenommen – insgesamt ein Bruchteil der Wirklichkeit, die uns umgibt.

Im Grosshirn erfolgt daraufhin eine subjektive Interpretation der gefilterten Nervenreize, sodass wir unsere Umwelt sinnvoll deuten können. Plötzlich sehen wir Farben, hören Klänge, riechen Düfte und verspüren Wärme; alles Eigenschaften, die es so eigentlich gar nicht gibt. Dass es sich bei unserer Wahrnehmung der Umwelt tatsächlich bloss um Interpretationen handelt, wird offenbar, wenn man etwa Luftdruckschwankungen mit einem bestimmten Frequenzgemisch einmal als Mehrklang, ein anderes Mal als einzelnen Ton mit bestimmter Klangfarbe wahrnimmt oder wenn man in der bewegten Silhouette einer Balletttänzerin eine Drehung sowohl im Uhrzeigersinn als auch im Gegenuhrzeigersinn ausmachen kann.

Die vier Sinne

Es bleibt die Frage, wie viele Sinne uns für ein solches Zerrbild der Umwelt zur Verfügung stehen. Fünf werden landläufig genannt: Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Tasten. Dabei werden etwa Temperatursinn und Gleichgewichtsinn mit dieser Einteilung gar nicht berücksichtigt. Zudem bleibt unklar, aufgrund welcher Kriterien diese Sinne unterschieden werden.

Immer wenn eine Sinneszelle angeregt wird, öffnen oder schliessen sich Ionenkanäle in ihrer Zellmembran und verändern so die elektrische Spannung an der Membran. Diese Spannungsänderung pflanzt sich der Membran entlang fort und wandert als Nervenreiz Richtung Gehirn. Würde man die Sinne aufgrund des Mechanismus einordnen, mit dem die Spannungsänderung an der Sinneszelle ursprünglich ausgelöst wird, müsste man beim Menschen, meiner Meinung nach, von vier Sinnen sprechen.

Ein erster Sinn ist die visuelle Wahrnehmung, die dem klassischen Sehsinn entspricht. Sie beruht darauf, dass Licht in den Lichtsinneszellen der Netzhaut die Gestalt (Konfiguration) eines Auslösermoleküls direkt verändert. Das löst eine Signalkaskade aus und ändert letztlich über Ionenkanäle die Membranspannung.

In der Nase und auf der Zunge befindet sich ein zweiter Sinn: die Chemorezeption. Moleküle, flüchtig beziehungsweise in Lösung, docken nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip an Rezeptorproteine an, stimulieren so beim Riechen und Schmecken chemisch die Sinneszellen und öffnen dadurch Ionenkanäle in der Membran. Je mehr verschiedene Rezeptorproteine vorhanden sind, desto besser können Gerüche und Geschmäcker unterschieden werden. So besitzt der Schäferhund etwa vier Mal so viele verschiedene Geruchsrezeptoren wie der Mensch.

Die Mechanoperzeption stellt einen dritten Sinn dar. Dabei reagieren Proteine in der Zellmembran auf Druck und Druckänderungen, was Ionenkanäle mechanisch öffnet und somit die elektrische Spannung verändert. Auf diese Weise funktioniert das Tasten, das die Wahrnehmung von Berührungen der Haut ermöglicht. Aber auch das Gleichgewichtsorgan und der klassische Gehörsinn funktionieren rein mechanisch. Hier sind sogar die gleichen Proteine an der Sinneswahrnehmung beteiligt: Ausgelöst durch die Schwerkraft und die Trägheit der Masse, werden in den Haarsinneszellen des Gleichgewichtsorgans lange Hebel umgelegt, welche auf diese Weise Ionenkanäle mechanisch öffnen. Dieselben Hebel werden beim Hören in der Gehörschnecke durch Schallwellen bewegt.

Ein vierter Sinn, die Thermorezeption, befindet sich ebenfalls in der Haut. Tiefe und hohe Temperaturen verändern die Form (Konformation) unterschiedlicher Rezeptorproteine in der Membran von Kälte- und Wärmesinneszellen, was wiederum Ionenkanäle öffnet und uns das Wahrnehmen von Temperaturen ermöglicht. Die involvierten Rezeptorproteine können jedoch auch chemisch stimuliert werden, was man aus dem Alltag kennt, wenn etwa mentholhaltige Salben einen kühlenden Effekt verleihen oder das Capsaicin aus der Chilischote höllisch auf der Zunge brennt

Das Übersinnliche

Gewisse Menschen verfügen angeblich noch über einen verborgenen, fünften Sinn; eine Intuition, eine übersinnliche Wahrnehmung, die schwer zu fassen ist. Wissenschaftliche Indizien für diesen fünften Sinn fehlen bis heute, und welchen evolutiven Vorteil er mit sich brächte, bleibt zu diskutieren. Aber ich bin gespannt darauf, irgendwann vielleicht zu erfahren, auf welche alternative Weise bei diesen Personen Ionenkanäle in der Membran geöffnet werden, welche die Welt nicht sinnlich, sondern gewissermassen metaphysisch erfahrbar machen.

Von Michael Kappeler, Biologielehrer