2023, Im Fokus, Interview, Sage & Schreibe Nr. 37, Zu Hause

Tiny ist gross genug

Grösser ist besser? Dies gilt nicht für die Aarauer Stadträtin Angelica Cavegn Leitner und ihren Ehemann. Sie wohnen nämlich schon seit eineinhalb Jahren in einem Tiny House im Garten ihres «alten» Hauses, das sie ihren Töchtern übergeben haben. Wir haben die Aarauer Stadträtin besucht und sie üner das Grosse und Kleine befragt.

Von Sorin Lababidi, G21K

Sage&schreibe: Heutzutage streben die Jungen generell nach maximaler Autonomie – und nicht wenige Eltern sind darüber nicht unglücklich. Sie haben sich mit ihrer Familie für das Stöckli-Prinzip entschieden. Ein Anachronismus? Oder ein neuer Trend?

Angelica Cavegn Leitner: Die Idee ist eigentlich sehr spontan entstanden. Zuerst dachte ich, wir könnten doch ein Tiny House bauen, doch mein Mann war anfangs eher skeptisch. Doch dann führte das eine zum andern und jetzt sind wir hier. Wir haben uns nicht vom Stöckli-Prinzip leiten lassen, es ging uns um das grosse Ganze. Vor allem war uns wichtig, dass es für die Kinder und für uns passte.

Wohnraum wird in der Schweiz und auch im Aargau immer knapper. Können Tiny Houses zur Lösung dieses Problems beitragen?
Unbedingt! Allerdings braucht es auch für kleine Häuser eine Mindestfläche, um das Projekt überhaupt realisieren zu können. Aber auch auf kleinem Raum lässt sich gut wohnen. Dies trägt sicher zur Lösung des Problems bei.

Sie sind Aarauer Stadträtin. Ist ihre Entscheidung für ein Tiny House auch ein politisches Zeichen?
Anfangs nicht. Aber es ist zweifellos zu einem geworden. Unserer Familie war es wichtig, ein Wohnkonzept zu finden, welches allen passt. Als das Tiny House dann aber stand, kamen immer wieder Interessierte vorbei, denen wir auch gerne Auskunft gaben. Wir empfinden diese Neugierde und auch die mediale Aufmerksamkeit insgesamt als sehr positiv und sind froh über das Interesse der Leute an unkoventionellen, innovativen Wohnkonzepten.

Platz zum Wohnen hat ja auch eine psychologische Komponente: Wir brauchen Rückzugmöglichkeiten. Inwieweit ist dies in ihrer Wohnsituation möglich – zumal Sie das kleine Haus ja zusammen mit Ihrem Ehemann bewohnen?
Corona hat uns in genau diesem Punkt auf die Probe gestellt. Nebst WC/Dusche ist das Schlafzimmer der einzige Raum, den man vom Rest des Hauses mit einer Tür abtrennen kann. So habe ich im Schlafzimmer gearbeitet und mein Mann im Wohnzimmer. Rückzug ist also durchaus möglich. Und seit ich im Tiny House wohne, gewinnt auch die nächste Umgebung wieder an Wert: Ich spaziere oft im Wald oder gehe in die Kantonsbibliothek.

Sie haben Ihr grosszügiges Zuhause aufgegeben, um sich auf wenigen Quadratmetern ein neues einzurichten. Wie geht das? Was braucht es, um sich zuhause zu fühlen?
Wir haben viele, viele Stunden mit der Planung des kleinen Hauses verbracht. Wie viele Steckdosen brauchen wir? Wo genau? Wie gross sollen die Fenster sein, und wie sollen sie platziert sein? Es ist essenziell, alles bis ins kleinste Detail durchzuplanen – und gerade deshalb verspüren wir eine grössere Verbundenheit zu unserem neuen Zuhause. Wir haben es uns schliesslich selbst ausgedacht.

Inwiefern waren Sie gezwungen, die Wörter «Zuhause» und «zuhause» neu zu definieren?
Schon während der Konstruktion des Tiny-Houses lebten wir zwischenzeitlich in einem Studio in der nähe der Neuen Kanti, da wir das Haus schon an unsere Töchter abgegeben hatten und sie Renovationen am Haus vornahmen. Deshalb war der Umzug ins Tiny-House schon fast wieder eine Erweiterung des Wohnraumes. Es war in gewissem Sinn auch ein befreiendes Gefühl, sich von den ganzen Pflichten zu lösen, die ein Haus mit sicht bringt. Dank der Nähe zu unseren Töchtern und der neu gewonnenen Freiheit fühlen wir uns hier zuhause.