2023, Aktuelles, Essay, Im Fokus, Kultur, Sage & Schreibe Nr. 37, Zu Hause

Die Zehnkubikmulde

Sesseli träge,
niemerem säge,
Cheller abe gah,
Wy uselaa
und das Schätzeli troole laa.

Von Michael Schraner, Musiklehrer und Heimwerker

I
Die obigen Zeilen stehen in «Värsli, Liedli, Sprüchli», einem illustrierten Buch, das mir meine Gotte zur Taufe geschenkt hatte. Es lag fünfzehn Jahre lang in einer Kiste im Keller, zusammen mit meinem Testatheft der Musikakademie Basel und meiner ersten mit Computer verfassten Bez-Hausarbeit aus dem Jahr 1993 zum Roman «Ingenieur Andrées Luftfahrt» von Per Olof Sundman. Gestern habe ich es wieder entdeckt. – Wir bauen bald um. Deshalb müssen wir unseren halben Hausrat verpacken und im Keller einlagern. Dort gilt es aber zuerst Platz zu schaffen. Zu diesem Zweck steht eine Mulde mit zehn Kubikmetern Fassungsvermögen vor unserem Haus. Alles, aber wirklich alles, was in den fünfzehn Jahren, seit wir hier wohnen, den Weg in die Kellerräume gefunden hat, ging in den letzten Tagen durch meine Hände. Grosse Teile wurden mit der Brechstange auseinandergewuchtet und mit dem Fäustel zerkleinert, damit die Zehnkubikmulde möglichst dicht befüllt werden kann. So ein Umbau wirbelt ganz schön viel Staub auf.

II
Im Sommer 2007 fuhr ich mit dem Rad durchs Dorf, meine Älteste, damals noch e chliine Chnopf, im Kindersitz. Den Weg bestimmten Adressen von Häusern, die angeblich zum Verkauf standen. Wo mir Haus und Garten gefielen, klingelte ich. Mit der Zweijährigen auf dem Arm (für den Jöö-Effekt) fragte ich wildfremde Menschen, wann und zu welchen Konditionen ihr Haus denn zu haben sei. Auch die gut 80-jährige Frau K. Meine Begrüssung erwiderte sie freundlich, den kleinen Chnopf fand sie süss. Aber auf mein Ansinnen, ihr Haus zu unserem neuen Zuhause zu machen, reagierte sie mit Verwunderung: Sie und ihr Mann hätten gar keinen Verkauf geplant.

III
Was für eine unglaubliche Masse an Dingen, die sich über die Jahre angesammelt haben! In Lukas Hartmanns Kinderbuch «All die verschwundenen Dinge» sucht der kleine Karl nach dem geheimen Ort, an dem sich all die verschwundenen – sprich: verlegten, verlorenen und liegen gelassenen – Dinge versammeln. Der grosse Michael wünscht sich, dass das ganze Gerümpel im Keller einfach verschwindet. Im stählernen Schlund der Zehnkubikmulde.

IV
Als ich vor einigen Jahren unter dem Dach stroharmierte Zwischenwände heraushämmerte, Balkenschuhe befestigte, einen Zwischenboden einzog und den sichtbaren Teil des Dachstocks bürstete, entdeckte ich auf dem Firstbalken eine Lithographie-Druckplatte aus dem Jahr 1920, vom Erbauer unseres Hauses in dickes Papier eingewickelt. Auf dem Packpapier hatte der bei der Firma Trüb in Aarau Angestellte handschriftlich festgehalten, dass die Stein-Platte seine Lieblingsarbeit sei. Also hatte er den Stein, so stelle ich es mir vor, an der höchsten Stelle im Haus platziert – gewissermassen als Schlussstein, verbunden mit guten Gedanken und Wünschen für seine Familie. Auch diese steinerne Druckplatte hielt ich bei der aktuellen Räumaktion wieder in den Händen. Sie soll nach dem Umbau einen besonderen Platz im Wohnzimmer erhalten. Schliesslich gehört der Stein in unser Haus, seit es 1933 errichtet wurde.

V
Herr K. betrieb ursprünglich ein Zügelunternehmen, Frau K. hatte im Zimmer direkt beim Eingang das örtliche Büro einer Versicherung eingerichtet. Beide waren längst pensioniert. Mit ein paar Wochen Verzögerung kamen wir doch noch mit ihnen ins Geschäft. Mein kecker Besuch mit dem kleinen Chnopf hatte das Ehepaar nämlich veranlasst, den lange aufgeschobenen Umzug in eine Alterswohnung voranzutreiben. Die beiden freuten sich, dass eine junge Familie das Haus übernehmen würde. Nach einigem Feilschen um den Verkaufspreis sassen wir uns schliesslich am Stubentisch gegenüber. Nachdem der Kaffee getrunken war, schlug der über 80-jährige Herr K. mit der Hand auf den Tisch: «Also gut. Das Haus ist verkauft!»

VI
In der Filmkomödie «100 Dinge» ist die freiwillige Beschränkung auf 100 Alltags- und Gebrauchsgegenstände einer Wette zwischen zwei Jungunternehmern und Konsumfetischisten geschuldet. In diesen Tagen ist es bei mir – Mittvierziger, der nie gut war im Wegwerfen von Dingen, die ausgedient hatten, und der überdies einige Noten-, Bücher- und CD-Sammlungen vererbt bekommen hat – ein geradezu inniger Wunsch, dass sich der Keller bis auf 100 Gegenstände von selbst entrümpeln möge. Der Keller – das Unterbewusstsein des Hauses: Ein Ort, wo sich Gegenstand gewordene Erinnerungen stapeln. Hinter- und übereinander, teils beschriftet, teils undeklariert in neutralen, längst vergessenen Kisten. Meine Sammlermentalität rächt sich. All die Einspielungen von Mahlersinfonien und Wagnermusikdramen, Partituren von Bachkantaten, viel zu viele Bildbände über Berge und Kunstschätze, unzählige, im Doppel entwickelte Abzüge von grönländischen Eisbergen, alle seit Kindertagen gesammelten Zeichnungen, Schulhefte, Postkarten und Briefe, dazu zu Dutzenden angebrochene Farbkessel aus mehreren Pinsel-Renovationsphasen und Unmengen von Kinderkleidern. Das alles muss jetzt freigelegt werden, fein säuberlich aussortiert und in der Menge mindestens halbiert. Die eine Hälfte landet nach und nach in der Mulde, im Schredder, der Entsorgbar, am Strassenrand mit dem Hinweis «Gratis zum Mitnehmen» oder in der Brockenstube. Die andere Hälfte wird neu geordnet, geschichtet, beschriftet und wartet auf die nächste Räumaktion.

VII
Wieso während der Sommerferien in die Ferne schweifen, wenn die Mulde so nah liegt? Beim Beginn des Umbaus wird unser Zuhause um zehn Kubikmeter Material erleichtert sein. Mindestens. Danach ist der aus kellerräumungstechni-schen Gründen arg vernachlässigte Garten dran. Da werden Gertel, Spaten und teils auch Pickel notwendig sein. Das Motivations-Motto für diese Arbeiten entnehme ich dem Värsli-Buch meiner Gotte: