Essay, Sage & Schreibe Nr. 19, Vom Wandel(n) der Musen

Von der Muse geküsst

„Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, … (Ạndra moi ẹnnepe, Moụsa), sage mir, Muse, singe mir von den Dingen, hilf meiner Eingebung und beflügle meine Worte! So lässt der griechische Dichters Homer seine Odyssee beginnen, das wohl berühmteste und einflussreichste Epos der abendländischen Literatur, das den Namen seines Helden zum Synonym einer menschlichen Irrfahrt schlechthin gemacht hat. Ein Irren und Streben durch das Leben.
Während 32 bis 35 Stunden pro Woche bewegen sich die Schülerinnen und Schüler durch Gebäude der AKSA, streben fleissig und stetig, häufen Wissen auf Gelerntes, Neues auf Bekanntes. Fördern und Fordern liegen da oft nahe beisammen; es bleibt wenig Zeit, sich seiner eigenen Interessen gewahr zu werden, geschweige denn sie zu verfolgen. Und manch einer ist froh um einen Anreiz, um einen Anstoss zum Entdecken möglicher Interessensgebiete ausserhalb des obligaten Schulunterrichts. Und mancher lässt sich verführen, verspürt Neugier, ist inspiriert und entdeckt sich selbst und erschafft sich neu. Was aber steht am Anfang eines kreativen Prozesses? Wie komme ich von der Aufgabe zur Klarheit, die mir einen Lösungsweg aufzeigt? Vom Wort zur Tat? Wir warten auf das Moment der Eingebung, auf eine plötzliche Ekstase.

Von der Muse geküsst heisst die schöne Wendung – gemäss idiomatischem Wörterbuch „scherzhaft“ anzuwenden –, die uns „zu künstlerischer Betätigung berufen, eine künstlerische Inspiration erlebend“ verheisst. Seit dem 17. Jahrhundert begegnet uns das Fremdwort Muse im Sinne von „beflügelnde Inspiration“ und „künstlerische Begeisterung“, die meist auf poetisch ästhetisch tätige Menschen bezogen wird. Das griech. mousa (lat. musa) liefert die Grundlage zu dieser Sinnübertragung, wobei sich die ursprüngliche Bezeichnung deutlich auf eine der neun altgriechischen Schutzgöttinnen der Künste bezieht. Sie sind die Töchter des Zeus und der Titanin Menmosyne, die als Göttin der Erinnerung wandelt. Anteil an dieser Erbschaft des Gedächtnisses kommt auch den Töchtern der Menmosyne zu, den Musen. Ihr Name bedeutet „Erinnernde“ oder „Sinnende“. Sie sind die Urheberinnen und Förderinnen der schönen Künste, der Musik und Literatur, allgemein der geistigen Beschäftigung.

Ihre Bedeutung verdanken sie ihrer Beliebtheit unter den Dichtern, die ihnen Inspiration zuschrieben. Und die Dichter und Denker aller Zeiten, die sich in ihre Obhut begaben, verliessen sich auf dieses Erbe der Gedächtniskraft. Das Gedenken einer Sache, Erinnern eines Augenblicks oder einer Situation bringt stets Gegenwärtiges mit dem zeitlich Entfernten zusammen. Das Erinnerte erhält eine überzeitliche Dimension, die als kulturelles Gedächtnis zugleich kulturstiftend sein muss.

Im gleichen Wortfeld finden wir das Adjektiv musischdie schönen Künste betreffend wie auch künstlerisch gebildet oder begabt sein und schlicht kunstempfänglich – wie auch das heute als Ort und Ausstellungsräumlichkeiten für Kunst- und wissenschaftliche Sammlungen bekannte Museum, das in seiner ursprünglichen Bedeutung als Studierzimmer beziehungsweise aus dem lat. museum schlicht als Ort für gelehrte Beschäftigungen gilt. Auch hier aber ist die Anlehnung an den Musen-Begriff deutlich: Das aus dem Griechischen stammende Wort mouseion benennt den Sitz der Musen, also die Orte, an denen sich die Göttinnen aufgehalten hatten, meist den göttlichen Apollon begleitend und umringend.

Raum und Inspiration

Der Musenkuss hat in seinem ursprünglichen Auftreten stets mit dem persönlichen Aufsuchen des Ortes zu tun. Als sei die Inspiration an den Raum gebunden. Wir versuchen also einen Raum zu finden, in dem die Empfänglichkeit erhöht, die Bereitschaft eindeutig ist und machen uns zugleich zu einem Gefäss, welches das Geküsstwerden und das Einfliessen der Inspiration auffangen kann.

Die Alte Kantonsschule ist eine Institution des Wissens, der Bildung und des Austauschs. Ihre Räumlichkeiten sind Orte des Lernens und der Kreativität zugleich. Es sind aber auch soziale Räume, die das Gemeinsame und Gesellige pflegen. So wandeln die Musen in ihren langen wallenden Gewändern singend und tanzend durch diese Hallen, stelle ich mir vor. Die Gänge der AKSA laden zum Lustwandeln ein! Und in einem der Räume setzen die Musen sich nieder und lauschen den Schülerinnen und Schülern.

„Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich“ schreibt Kafka in einer Tagebuchnotiz. Diese Räume zu finden, zu erkunden und wieder zu verlassen, ihre Schwelle zu beschnuppern, sie möglicherweise überschreiten zu können, um dann die Tür wieder ins Schloss zu werfen und den Raum zu vergessen, das ist Fantasie, das ist die Kunst des Selbsterkundens. Kategorien des Raums bestimmen unser alltägliches Leben und unsere kulturellen Ausdrucksformen. Unweigerlich wird der Raum damit zu einem Faktor der Identitätsbildung. Et voilà – da wollten wir doch hin. Da haben wir ihn, unsern Raum. Den freien Raum nämlich, in dem Selbsterkenntnis in hohem Masse möglich ist. Diesen Raum gilt es im Unterricht und in speziellen Gefässen vermehrt zu gewähren.

Apropos Schwelle: Selbst Goethes Mephisto in Faust hat ein Schwellenproblem. Der Drudenfuss hindert sein Fortgehen, das Holz muss zuerst angenagt werden. Eine Kunst oder ein Bewusstsein, das an einer Schwelle halt macht, war in Goethes Augen fragwürdig. Über die Schwelle jedoch betreten oder verlassen wir einen Raum. Schwellenängste plagen uns ebenso wie die unbändige Anziehung von Schwellenerfahrungen. Der Schluss liegt nahe, dass zwei durch eine Schwelle verbundene Räume wie Bewusstsein und Unbewusstsein, Wachen und Schlaf, Traum und Wirklichkeit sich zugleich gegenseitig erschliessen. Sie sind Übergänge, keine Orte des Verweilens. Man entscheidet sich zum Gehen oder Bleiben; ein Platz des Erinnerns und zugleich eine Grenze, die überschritten werden kann oder eben nicht, aber stets zu einer inneren Auseinandersetzung auffordernd. Schwellen sind Zwischenräume, Etappen im Denken, sie zeigen den Zugang zu etwas Neuem, Anderem, Gewagten. Sie zeigen einen weiteren Raum. Räume hingegen laden zum Bleiben und zum Aufenthalt ein.

Vom Ort zum Prozess – Allegorie der Schaffenskraft

Wann küsst die Muse? Und küsst die Muse alle gleich? Was bewirkt ihr Kuss? Die Eingebung stellt sich überraschend und unverhofft ein, die Muse ist frei von Ort und Zeit. Sie küsst am Morgen, des Nachts im Dämmerzustand … Sie kommt ins Studierzimmer, in die Küche, begleitet eine kleine Reise im Zug und blickt mit uns auf die vorbeirauschende Landschaft, sie steht mit uns unter der Dusche und scheut sich auch vor dem stillen Örtchen nicht. Sie taucht auf und ist ebenso unverhofft wieder weg. Sie ist frei in ihrer Beziehung zu uns und nicht mit Zwang zu halten. Wir können lediglich bereit sein für sie und mit Gelassenheit ihren Kuss annehmen und ihr Fernbleiben erdulden.

In der frühneuzeitlichen Rezeption erfährt der Musenbegriff eine Wandlung oder besser: eine zusätzliche Bedeutung. Es ist den Dichtern um ein Erinnern der Seele an ihre ursprünglich himmlische Existenz zu tun. Die solchermassen göttliche Inspiration hilft der Seele, den Zustand zwischen schöpferischem Geistesstrom kraft ihrer Abstammung und körperlicher Bindung zu einer Harmonie zu bringen, eine Art Einfliessen in den Dichter, ein Einschlagen wie ein Blitz, ein „furor divinus“. Das Konzept der In-Spiration im Sinne des Wortes wird tragend bleiben.

Die Moderne nimmt eine bereits früher initialisierte Wendung des Musenkultes auf, in welchem vermehrt Einzeldarstellungen – auch in der bildenden Kunst – zu finden sind. Diese zeigen den Dichter mit einer Muse an seiner Seite. Das Musische erfährt so quasi eine Privatisierung. Dabei werden nach und nach die Funktionen der Musen zwar aufgeweicht, das Motiv der Inspiration für nunmehr jede mögliche Berufssparte bleibt bestehen. Der Schaffensprozess als solcher rückt vermehrt ins Zentrum und drängt die Muse als Teilnehmerin in einem Prozess der Autoinspiration an den Rand, wo sie mit dem Schaffen und dem Werk verschmilzt. Otto Dix stellt genau diesen Prozess in akzentuierter Weise in seinem Selbstbildnis mit Muse von 1925 dar, wo sich der Künstler die eigene Muse malt und erschafft. Auch in der Musik werden die Musen nach und nach zum Gegenstand musikalischer Produktionen selbst oder sie fungieren schlicht als Namengeberinnen für Titel. Wir finden sie bei Walt Disney und in der Filmwelt allgemein, in der bildenden Kunst und der Literatur genauso wie in der Musik. Nicht von ungefähr widmet die englische Rockgruppe Muse dem Wesen gleichen Namens ein Lied mit dem Titel Space Dementia auf ihrem wohl besten Album Origin of Symmetry. 

Die Begegnung des Dichters oder Künstlers mit den Musen ist an sich keine körperliche, sondern eine mentale, geträumte Zwiesprache. Die Muse wird zur Allegorie der Schaffenskraft an sich. „Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge“, gibt Walter Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels zu bedenken und liefert uns zugleich die Dislokation vom Sprachlichen zum Räumlichen. Obwohl die zersetzten und zerfallenen Gebäude bei Benjamin den Vorzug erhalten, weil in den Ritzen, Bruchkanten und Schutthöhlen sich das Wissen sammle, bleibt die Erinnerung an etwas einst Gewesenes mit dem deutlich sichtbaren Mahnmal des noch übrig Gebliebenen verbunden. Der Rest lässt aufs Ganze zurückblicken, von den Brocken auf die Mauer und das Gebäude. Raum und Zeit treten in eine Beziehung. 

Die moderne Gesellschaft hat mit ihren Entwicklungen und ihren Bedürfnissen eine Entkoppelung von Raum und Zeit erwirkt, die weitreichende Konsequenzen birgt. Das Überschreiten des Raumes beziehungsweise die Überwindung von Distanzen ist kaum noch an Zeit gebunden, die Digitalisierung ermöglicht uns Räume verschiedenster Art gleichzeitig zu bearbeiten und auch die Beziehungswelten unter uns Individuen sind nicht länger an Räumlichkeiten oder zeitliche Fixierung gebunden. Die steigende Vernetzung und Globalisierung sind schön, ohne Zweifel. Das Aber ergibt sich aus derselben Zweiteilung: Ich entscheide mich für Raum oder Zeit, für das Hier oder das Jetzt, für das Am-richtigen-Platz-Sein oder das Zum-richtigen-Zeitpunkt-Sein. Die Dynamisierung und Effizienzsteigerung führen paradoxerweise zugleich zur Knappheit einer der beiden Ressourcen Raum oder Zeit. Eigene Erfahrungen im Unterricht und vor allem Gespräche mit Schülerinnen und Schülern zeigen, dass sie sich durchaus eine noch offenere und freiere Wahl ihrer Fächerkombinationen wünschen würden. Zudem – und dieser Aspekt scheint mir der allerwichtigste zu sein und sollte unbedingt Gehör erhalten – wünschen sie sich mehr Zeit beziehungsweise die Möglichkeit, sich stärker auf bestimmte Interessen einlassen und konzentrieren zu können. 

Dass die Schweiz anscheinend zu wenig Platz hat, wissen wir spätestens seit der letzten Abstimmung. Dass dem Land der Uhren auch noch die Zeit ausgehen soll, kann nicht stimmen, darf nicht sein. Nur wenn wir diese Entscheidung zwischen Raum und Zeit also nicht als solche erleben und beides vereinen, erfahren wir eine Ruhe, finden wir Musse. 

Die Etymologie des Wortes „Musse“ beruft sich auf eine für die deutsche Sprache – und die Substantivbildung sei übrigens ein Spezifikum, was gerade in Anbetracht der positiven Konnotation des Wortes beachtlich ist – herzuleitende Verwandtschaft mit den Verben müssen, aber auch mit den Worten messen und „Mal“ im Sinne von „Zeitpunkt“. Die mhd. Form muoze (ahd. muoza) bedeutet ursprünglich „Gelegenheit finden oder Möglichkeit haben, etwas tun zu können“, was sich durch die Ableitungen müssig „unbeschäftigt, untätig sein“, allerdings auch „überflüssig, unnütz“ und die zugehörige Substantivierung müezecganc semantisch einfangen lässt. Die Musse also ist der Schlüssel zum Musenkuss. Sie birgt die Voraussetzungen – Untätigkeit, in der sich aber die Gelegenheit erst einstellt, Nichtstun und vor allem die freie Zeit –, um für die Musen bereit zu sein.

„Raum“ kommt von „räumen“…

Gerne findet man das Gymnasium als „Lebensschule“ bezeichnet. Eine Binsenwahrheit, denken wir! Non scholae, sed vitae discimus, soviel sei sicher! Aber möglicherweise lohnt sich immer wieder das genaue Hinhorchen auf konkrete Begriffe. Lebens-Schule nennen wir sie nicht, weil der Wortteil Schule primär das Kompositum ausmacht, sondern weil der Akzent eben auf dem Leben zu liegen habe. Eine Hinwendung zur und ein Erfahren von Gegenwärtigkeit, ein Verständnis des Lebens sei Bildung! Auch der Physiker und quasi Altvater unserer Schule, Albert Einstein, gestand gegenüber der Erkenntnis, dass sie weder erklärbar noch erzwingbar sei. „Die Intuition ist ein göttliches Geschenk, der denkende Verstand ein treuer Diener. Es ist paradox, dass wir heutzutage angefangen haben, den Diener zu verehren und die göttliche Gabe zu entweihen.“  

Die Lernpsychologie besagt eindeutig, dass die Lernmotivation, die sogenannt intrinsische Motivation, bei Schülern unvergleichlich steigt, wenn das Interesse des Schülers geweckt ist, seine Aufmerksamkeit sich somit erhöht und er sich selbst fachlich und persönlich abgeholt fühlt. 

Die grösstmögliche Wahlfreiheit bei gleichzeitig rein individueller und aus eigener Entscheidung aufgebrachter Beteiligungsmotivation führt die Schüler zu den Freifächern. Gerade den Faktor Zeit und Flexibilität in Bezug auf diese entwicklungspsychologisch erklärbare Motiv- und Interessenverschiebung kann ein Freifach bedienen. Von einem frei gewählt wird ein Fach dann, wenn es den eigenen Interessen entspricht. Verändern sich die Interessen, dann belegt man das Freifach nicht mehr.  

Erinnern wir uns an die Ursprünge der Kreativität und der Schaffenskraft! Den ersten Musenkuss eines Jugendlichen, die Grundsteine in ein kreatives Feld seiner ganz persönlichen Entwicklung, seiner tiefen Wünsche zu Ausdruck und Mitteilung von Anlagen, die intrinsisch angeregt nur zu wirklicher Entfaltung und Kraft finden, die also ein Angebot an Freifächern, das zu diesem Zweck gewachsen ist, nutzen können soll, ein Ausgleich zum kanonisierten Wissen einer Masse in Schule und Weiterbildung, ein Ausgleich abzielend auf Charakteristika wie Interesse, Neugier, Nostalgie, Sehnsucht und Liebe zum Gegenstand, Antrieb und Leidenschaft, Unvoreingenommenheit und Unbescholtenheit, Interesse und Wissensdurst, Hinterfragen wagen ohne Angst davor, die falschen Fragen zu stellen, ohne Scheu vor möglichem Irrtum, mit Freude an vertrackten Problemen und möglichen Sackgassen, schlicht das reine Streben und Treibenlassen. Nietzsche sagte in seinen Vorträgen über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, „so ist dem wahrhaft Gebildeten das unschätzbare Gut verliehen, ohne jeden Bruch den beschaulichen Instinkten seiner Kindheit treu bleiben zu können und dadurch zu einer Ruhe, Einheit, zu einem Zusammenhang und Einklang zu kommen, die von einem zum Lebenskampfe Herangezogenen nicht einmal geahnt werden können“.  

Es sind diese als kindlich betitelten Eigenschaften, die wir zu erhalten, ja zu fördern versuchen. Und wo kämen sie her, wenn nicht aus dem einzelnen Menschen selbst. Seine ganz eigene Motivation allein ist es, die ihn die wahre Begeisterung und Hingabe an das Wissen beziehungsweise an die Bildung finden lässt. Man kann diese Eigenschaften weder züchten noch erzwingen, man kann nur mit Geduld darauf warten, dass sie sich einstellen mögen und der Musenkuss einen ereilt. Zögern heisst nicht Scheitern. Aber es braucht Mut, sich der gestundeten Zeit entgegenzustellen und sich sinken zu lassen, um den Raum zu fühlen, zu ertragen, der sich öffnet, damit die Muse Einzug halte. Warten ohne zu erwarten, Sitzen ohne auszusitzen, Ruhen ohne Hast, sinnieren ohne den Sinn zu erzwingen, denken, entspannen, sammeln. Wir können weder das Denken noch die Erkenntnis beschleunigen; aber wir können ihnen Raum geben! 

Von Jacqueline Seiler, Deutschlehrerin