2023, Aktuelles, Im Fokus, Sage & Schreibe Nr. 37, Zu Hause

Zuhause

Eine Sprachlehrerin und ein Sprachlehrer diskutieren über den Begriff «Zuhause» und merken schnell, dass dabei noch viele andere Begriffe mitschwingen.

Von Lea Hänsli (Französisch) und Mario Podzorski (Deutsch und Geschichte)

Mario Podzorski: Kürzlich mussten die Schülerinnen und Schüler drei Bilder in meinen Unterricht mitbringen, die sie mit Heimat verbinden. Es kam Interessantes zusammen: Gastfreundschaft in der Türkei, Liebe, Brotkauf im Kosovo, Familie, Katzen, Essen, Fussball und Berge. Eigentlich hätte ich erwartet, dass nur geographische Themen gewählt würden.

Lea Hänsli: Welche Bilder hättest du mitgebracht?

MP: Wahrscheinlich ein Bild, das den Jura zeigt, und eines meiner Familie.

LH: Viele Leute sagen, Heimat sei für sie eher ein Gefühl als ein Ort. Mein Heimatbegriff ist aber auch geographisch geprägt. Als ich eine Zeit lang in Frankreich studiert habe, haben mir die Hügel des Jura tatsächlich gefehlt. Vielleicht bin ich auch bünzlig.

MP: Es gibt Weltbürger, die sagen, Heimat sei dort, wo ihre Leute seien. Ich hingegen habe einen sehr geographischen Heimatbegriff. Vielleicht deshalb, weil ich als Kind mit meiner Familie in den Bergen in den Ferien war. Das hat mich wohl geprägt.

LH: Bei mir hat sich der Heimatbegriff verändert. Als Jugendliche fand ich Wanderferien in den Bergen oder Mundartmusik altmodisch. Erst, als ich älter wurde, lernte ich die Schweiz zu schätzen.

MP: Damit bist du wohl nicht die Einzige. Ich glaube, dass man in seinem Heimatbegriff eine Entwicklung durchmacht. Phasenweise geht man auf Distanz zum Bekannten, dann nähert man sich ihm wieder an. Ich habe das selbst erfahren. Während des Studiums wollte ich möglichst weg, aber als ich dann im Ausland gearbeitet und Woche für Woche dieselbe Joggingroute abgespult habe, sehnte ich mich nach dem Aarauer Wald.

LH: Schauen wir uns doch die Begriffe genauer an: Der hochdeutsche Begriff «Zuhause» ist mit dem Haus als Gebäude verbunden. Das Französische kennt neben dem Ausdruck «à la maison» noch den Begriff «foyer». Dieses Wort geht auf das lateinische «focus», Feuer, zurück. Das Zuhause als Ort des häuslichen Herds, der Küche und somit wohl auch des Zusammenkommens. Besonders interessant finde ich aber den französischen Ausdruck «chez soi»: bei sich. Da wird die Perspektive gewechselt, der lokale Bezug ist nicht mehr präsent. Man ist zuhause, wenn man bei sich ist. Ob man wohl einen anderen Heimatbegriff hat, wenn die eigene Sprache keinen lokal-geographischen Ausdruck dafür kennt?

MP: Im Deutschen kommt der Begriff «Heimat» von «Heim», als anderes Wort für Haus. Heute hat sich dieser Begriff mit Gefühlen aufgeladen. Die Heimat als Ort, wo man sich wohlfühlt. Häufig wird der Heimat-Begriff von politisch rechten Parteien monopolisiert. Die Heimat als heile Welt, wie es sie vor Jahrzehnten gegeben habe, in der alles noch geordnet ablaufe. Interessanterweise stellen linke Parteien dem keinen anderen Heimatbegriff gegenüber, der fängt. So wirkt man plötzlich bünzlig, wenn man sich nicht als Weltbürger gibt. Schade!

LH: Der Kern «Heim» steckt in vielen Wörtern: Heimat, heimelig, daheim… Interessanterweise sind die meisten für mich positiv konnotiert. Ausser das Wort «Heim» selbst. Das scheint das Gegenteil zu sein, zum Beispiel als Kinder- oder Jugendheim. In der Literatur und in Filmen (und leider häufig auch in der Realität) sind Heime trostlose Orte, wo sich die Bewohnenden alles andere als «daheim» fühlen.

MP: Stimmt. Was haben wohl all die ehemaligen Verdingkinder und ‹administrativ Versorgten› für einen Heimatbegriff?

LH: Bestimmt keinen positiven. Sie hatten ja kein Zuhause, wohin sie sich zurückziehen konnten. Auch Leute, die zuhause Gewalt erfahren haben, werden ihr Daheim anders bewerten als wir.

MP: Wer von zuhause weg musste, dem dürfte es ähnlich gehen. Meine Tante hat in Tansania mit Strassenkindern gearbeitet. Diese haben sich aktiv für ein Leben auf der Strasse entschieden, weil sie zuhause Gewalt und sexuelle Übergriffe erlebt haben. Ihr neues Zuhause waren dann die Strasse und andere Strassenkinder.

LH: Wahrscheinlich sucht man dann automatisch den Kontakt zu Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie man selbst. Und schon ist der Heimatbegriff wieder eher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit als ein geographischer Begriff.