2024, Aktuelles, Im Fokus, Interview, Sage & Schreibe Nr. 38, Zukunft

«Der digitale Richter bleibt hoffentlich Utopie» 

Gesetze sind juristische Setzungen. So leicht lassen sie sich nicht verändern. Genau dies aber verlangt der rasant fortschreitende gesellschaftliche und technologische Wandel. Wie soll das gehen, und wo setzt man in Zukunft die Schwerpunkte? – sage&schreibe hat nachgefragt beim Aarauer Oberrichter Dr. Lukas Cotti.

Von Nathalie Tanner und Ella Karg, G21K

sage&schreibe: Wie sehen Sie die Rolle von Gerichten im Allgemeinen in der zukünftigen Gesellschaft? Glauben Sie, dass sich die Prioritäten oder Schwerpunkte ändern werden?
Lukas Cotti: Gerichte sorgen für Rechtsfrieden. Daran wird sich nichts ändern. Mit dem Bevölkerungswachstum nehmen aber tendenziell auch die Konflikte zwischen den Menschen zu, so dass die Arbeit der Gerichte ebenfalls wachsen wird. Gesellschaftliche Veränderungen haben natürlich auch einen Einfluss auf die inhaltliche Arbeit der Gerichte; so ist beispielsweise die Unterhaltsberechnung bei Scheidungen wegen neuer Familienmodelle (wie Patchworkfamilien) schon jetzt komplexer geworden. Auch technologische Fortschritte werden sich zunehmend auf die Gesetzgebung und die Arbeit von Gerichten auswirken.

Denken Sie, dass ethische und moralische Fragen im Rechtssystem eine grössere Rolle spielen werden? Wenn ja, welche Herausforderungen könnten damit einhergehen?
Ethische und moralische Fragen haben sich schon immer gestellt. Solche Fragen werden sich künftig aber in neuen Zusammenhängen stellen. Ich denke da beispielsweise an die Genforschung, die Fortpflanzungsmedizin oder auch an die Digitalisierung. Mit dem technologischen Fortschritt stellt sich auch vermehrt die Frage, wer für Fehler der Technik verantwortlich ist. Sollte alles, was technisch möglich ist, auch rechtlich erlaubt sein? Was ist noch verhältnismässig, was nicht? In einem Gerichtsverfahren bemühe ich mich, möglichst nicht moralisierend zu sein. Es geht nicht darum, moralische, sondern gesetzeskonforme Urteile zu fällen.

Inwiefern könnten sich rechtliche Verfahren in der Zukunft verändern, insbesondere im Hinblick auf technologische Entwicklungen wie KI und Automatisierung?
Schon heute benutzen die Aargauer Gerichte für die nachträgliche Anonymisierung von Gerichtsurteilen eine KI-basierte Software. In Deutschland wird in den sog. Diesel-Verfahren bereits heute KI eingesetzt, um die Fälle zu systematisieren und damit effizienter bearbeiten zu können. Der nächste digitale Schritt wird nicht zu einer vollautomatischen Gerichtsbarkeit führen, der digitale Richter bleibt hoffentlich Utopie; vielmehr wird es um die Einführung von Assistenzsystemen gehen. Ich denke da beispielsweise an KI-basierte Programme, die den Richter bei der Recherche unterstützen oder dabei, bei der Würdigung von Aussagen im Strafprozess zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Eine KI-Software wird das Letztere vielleicht sogar besser können als ein Mensch, da ein Computer viel mehr Vergleichsdaten in kurzer Zeit verarbeiten kann. Dabei dürfte sich jedoch ein neues Problem stellen: die Beurteilung der Verlässlichkeit des Ergebnisses. Denn wie die Maschine genau zu einem Ergebnis kommt, bleibt unklar.

Wie können Gerichte oder die Rechtsprechung dem wachsenden Bedarf an Umwelt- und Klimaschutz Rechnung tragen? Und welche Rolle können sie bei der Bewältigung von Umweltrechtsverletzungen spielen?
Klimaschutz ist nur beschränkt justiziabel. Der Grund dafür liegt im internationalen Charakter der Klimafragen, die keine Territorialbegrenzung kennen. Aktuell sind verschiedene Klimaklagen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hängig. Das Bundesgericht hat sie als «Popularbeschwerden» definiert und den Klägern das erforderliche Rechtsschutzinteresse abgesprochen. Gemäss Bundesgericht sind solche Klimaanliegen primär durch politische Mittel durchzusetzen. Das Gericht kommt erst nachgelagert zum Zug.

Wie gehen Sie mit der Verantwortung oder «Macht» um, die das Urteil eines Richters bezüglich der Zukunft eines anderen Menschen mit sich bringt?
Persönlich bevorzuge ich das Wort «Verantwortung», weil Macht eher negativ konnotiert ist. Ich fühle keine Befriedigung, wenn ich jemanden im Strafprozess verurteile. Richtig ist natürlich, dass gerichtliche Entscheidungen schwerwiegende Folgen für die Betroffenen haben können, weil sie vielleicht jahrelang ins Gefängnis müssen, hohe Geldbeträge zahlen oder das Land verlassen müssen. Der Ansporn muss sein, den Job als Richter gut zu machen und sich an die Regeln zu halten, die auch dem Richter vorgegeben sind.

Bild: Alessia Castro Castell