Arten verändern sich, so auch Homo sapiens. Was offensichtlich für seine kulturellen Errungenschaften gilt, stimmt auch für seine natürlichen Eigenschaften, bestimmt durch sein Erbgut. Was, wenn wir diese genetische Entwicklung aktiv beeinflussen und gestalten wollten? Wo könnten wir ansetzen, und wie müssten wir dabei vorgehen? Ein weihnächtliches Gedankenspiel.
Von Michael Kappeler, Lehrer für Biologie
Würden wir die Entwicklung des Menschen gezielt steuern, stellte sich die Frage, wie weit wir dabei gehen dürften. Mit Argumenten der Fortpflanzungsbiologie wären dies die einzigen Limiten: Die neue Version des Menschen muss weiterhin, real oder hypothetisch, mit der heutigen Version fertile Nachkommen zeugen können – andernfalls hätten wir eine neue Spezies geschaffen. Obwohldiese Definition von Spezies über einen grösseren Zeitraum betrachtet zu Dilemmata führt, akzeptieren wir sie als alleinige Rahmenbedingung für unser Basteln an Homo sapiens mit der Mikropipette. Es ist denkbar, dass man sich für ein solches Unterfangen auch ethische Leitplanken wünscht, aber die lassen wir in unserem Gedankenspiel bewusst aussen vor.
Über die vergangenen Weihnachtstage habe ich mich gewissermassen aus gegebenem Anlass gefragt, ob sich bei H. sapiens mit einem genetischen Update die Fähigkeit zur Jungfernzeugung implementieren liesse. Zur Jungfernzeugung, der Parthenogenese, braucht man definitionsgemäss keinen Sexualpartner. Man findet diese Form der Fortpflanzung oft bei Wirbellosen, aber nicht nur. Auch bei Fischen, Vögeln und Reptilien wurde sie schon beobachtet. 2021 berichtete etwa das Journal of Heredity, dass auch Kondore (Gymnogyps californianus) Eier legen, aus denen Junge mit rein mütterlichem Erbgut schlüpfen 1 . Um als Tier Parthenogenese betreiben zu können, muss man allerdings ein Weibchen sein. Das sind stets diejenigen Individuen, die Eier und nicht Spermien produzieren.
Um Parthenogenese in Weibchen von H. sapiens zu ermöglichen, muss man jedoch erstens wissen, welche Gene für die Parthenogenese verantwortlich sind, und zweitens die genetischen Veränderungen in den Eizellen technisch realisieren können.
Mit der molekularen Genschere, der CRISPR-Cas9-Methode, ist es seit 2013 möglich, in unserem Erbgut mit 3’000’000’000 Bausteinen zielgenau einen einzelnen Baustein in einem der 30’000 Gene zu verändern.2 Die Methode hat sich innerhalb weniger Jahre flächendeckend etabliert und weiterentwickelt, sodass sie heute in Biolaboren omnipräsent ist und auch bei uns an der Schule bei Bakterien eingesetzt werden kann. 2017 erzeugte ein Molekularbiologe damit im Labor zwei H. sapiens Mädchen, Lulu und Nana, mit einer genetisch bedingten Resistenz gegen HIV 3. Dies erregte nicht nur viel Aufmerksamkeit in der Welt der Wissenschaft, sondern brachte ihm auch drei Jahre Gefängnis ein. Abgesehen von rechtlichen Hürden und allfälligen ethischen Bedenken steht jedenfalls ausser Zweifel, dass sich das Erbgut des Menschen gezielt verändern lässt. Die erste Bedingung für unsere Bastelei ist demnach erfüllt.
Wo in unserem riesigen Genom müsste man aber ansetzen, um Parthenogenese zu ermöglichen? Zwar wurde auch in Wirbeltieren schon untersucht, welche Gene mitbestimmen, ob Parthenogenese stattfindet oder nicht; Experimente mit Fruchtfliegen helfen aber, die genetischen Zusammenhänge besser zu verstehen. Es gibt Fruchtfliegenarten wie Drosophila mercatorum, welche fakultative Parthenogenese betreiben; andere können das nicht, wie Drosophila melanogaster. 2023 haben Forscher entdeckt, welche Gene in D. mercatorum für Parthenogenese aktiv sein müssen, was zeigt, welche genetischen Baupläne in der Eizelle für eine asexuelle Vermehrung abgelesen werden. Mithilfe dieser Erkenntnisse wurde das Erbgut von D. melanogaster derart verändert, dass neu auch diese Fruchtfliegenart zur Parthenogenese in der Lage war4.
Viele molekulare und zelluläre Prozesse sind bei Tieren stark konserviert, von vielen Fliegengenen findet man auch im Menschen entsprechende Versionen, die oft auch ähnliche Funktionen haben. Es ist folglich zumindest denkbar, dass wir, die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen vorausgesetzt, Jungfernzeugung auch in H. sapiens etablieren können – wenn auch nur in Weibchen, den Individuen mit den Eizellen.
Nach diesem vagen und rein theoretischen Proof of Principle stellt sich die Frage nach einem möglichen Nutzen der menschlichen Jungfernzeugung. Die Möglichkeit zur Fortpflanzung ohne Sexualpartner ist grundsätzlich für jede Spezies vorteilhaft. Gibt es darüber hinaus zusätzliche Kollateralnutzen oder -schäden? Der fortpflanzungsbiologische Wert eines H.-sapiens-Männchens wäre sicher eingeschränkt, da man seine Spermien nicht mehr für die quantitative Aufrechterhaltung der Population, sondern nur noch für eine gelegentliche genetische Durchmischung bräuchte. Mit der zu erwartenden kleineren Anzahl an Männchen – eine solche zugegebenermassen unwissenschaftliche Überlegung sei in einem Gedankenspiel erlaubt – sänke eventuell auch die Auslastung von Strafanstalten, die Anzahl diktatorisch geführter Staaten und die Präsenz der vielzitierten toxischen Männlichkeit – vielleicht aber würden die dannzumal vorhandenen ökologischen Nischen einfach von Weibchen besetzt.
In einem Extremszenario würden die Weibchen vollständig auf die sexuelle Fortpflanzung verzichten und sich nur noch parthenogenetisch fortpflanzen. Neben dem offensichtlichen Nachteil für die Männchen, die es dann gar nicht mehr gäbe, würde auch die evolutive Weiterentwicklung der Weibchen leiden, da sexuelle Rekombination nicht mehr möglich wäre. Schliesslich wären wir damit an der eingangs gestellten Aufgabe formal gescheitert; ohne sexuelle Fortpflanzung könnte nämlich nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden, dass die weiblichen Individuen der Population überhaupt noch zu H. sapiens gehörten.
Ich muss mir eingestehen, dass ich meine Bastelpläne für eine menschliche Jungfernzeugung vielleicht zu ungestüm entwickelt habe und sie deshalb noch nicht gänzlich ausgegoren sind. Zudem: Als Männchen und Elter von zwei weiteren Männchen, gefällt mir die oben skizzierte Anwendung nicht sonderlich, denn wer entwertet schon gerne sich selbst und seine Brut. Wie beneidenswert sind da Kondormännchen, denen keine Marginalisierung durch rein weibliche Fortpflanzung droht. Denn dank W und Z, statt X und Y schlüpfen aus parthenogenetischen Kondoreiern erstaunlicherweise Männchen und keine Weibchen.
Bild: Hanna Siegel
1 Ryder O et al. 2021. Facultative Parthenogenesis in California Condors. Journal of Heredity. 112:569-574
2 Cong L et al. 2013. Multiplex Genomic Engineering Using CRISPR/Cas Systems. Science. 339:819-823
3 Hong M et al. 2017. Correction of Pathogenic Gene Mutation in Human Embryos. Nature. 548:413-419
4 Sperling AL et al. 2023. A Genetic Basis for Facultative Parthenogenesis in Drosophila. Current Biology. 33:3545-3560