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Ein kleines Abenteuer

Vielleicht war es eine schlechte Idee, Opa aus dem Altersheim zu schmuggeln. Für einen Rückzieher war es nun aber sowieso zu spät. Opa hielt meine Hand und genoss die spätsommerliche Luft. Als die Sonnenstrahlen auf sein faltiges Gesicht fielen, schloss er die silbernen Augen. In der sanften Brise wippte sein fedriges Haar hin und her. Wir schlenderten über den Parkplatz und ich lächelte die anderen Besucher verkrampft an, um nicht aufzufallen. Ich strich mir die blonden Locken aus der Stirn. Bis jetzt lief alles gut. Der blassblaue Trabant stand schief in der Parklücke.
«Was macht denn mein alter Kasten hier?»
«Schrott!», krähte Fridolin, Opas grün gefiederter Papagei, der auf seiner Schulter sass.
«Du hast ihn mir doch vermacht», erinnerte ich Opa und reichte ihm den Autoschlüssel, mit dem er freudig den Wagen aufschloss.
Früher hatte ich Opa gesagt, er solle sich ein moderneres Auto zulegen.
«Mit dem Trabi bin ich durch halb Europa gefahren!», pflegte er dann tadelnd zu sagen.
Nachdem man Opa mitgeteilt hatte, dass er nicht mehr Autofahren dürfe, hatte er mir die Schlüssel in die Hand gedrückt.
«Pass auf ihn auf, ja?»
Wir setzten uns in den Trabi. Opa atmete tief ein. Aus Fridolins Schnabel ergoss sich ein Schwall Schimpfwörter, bei denen Opa anfing, diebisch vor sich hinzugrinsen.
«Fridolin schimpft schlimmer als ein Matrose.»
«Ich war doch Matrose.»
Ich schmunzelte. Die Geschichten von Opas Leben auf See kannte ich in– und auswendig. Ich griff nach der Brötchendose auf der Rückbank und überreichte sie ihm feierlich. Opa hob die Augenbrauen und löste den Deckel. Ein kleiner Kuchen befand sich darin. Der Rand war etwas angekokelt.
«Nelly, sag nicht, dass ich heute Geburtstag habe!»
«Du wirst 77, Opa.»
«Nee, unmöglich!»
«Blödmann!», kam es von Fridolin.
Ich zog einen zerknitterten Umschlag aus meiner Hosentasche.
«Wenn ich 77 werde, dann öffne diesen Brief und tu, was drinsteht», hatte mich Opa vor einigen Jahren mit ernster Miene – die sonst unüblich für ihn war – gebeten.
«Wieso dann?»
Opa hatte die Augen verdreht. Die verspielten Züge um seine Mundwinkel tauchten wieder auf. «Das ist doch meine Lieblingszahl!»
«Und wieso gibst du mir den Brief?», hakte ich nach.
«Damit du mich weiterhin besuchen kommst.»
Eine alte Landkarte fiel mir in den Schoss. Das Papier knisterte in meinen Händen, als ich es auseinanderfaltete.
«Da gehen wir heute hin.»
Mit dem Zeigefinger deutete ich auf eine rot eingekreiste Stelle, unter der in ungelenker Schrift stand:
Unter der Trauerweide.
«Und dort graben wir etwas aus?»
«Genau.»
Was wir aber ausgraben würden, stand nicht in Opas Brief.
«Das wird ein kleines Abenteuer», meinte Opa vergnügt.
Er grinste und ich grinste zurück. Ich brauchte mehrere Anläufe, bis der Motor ansprang und der Trabi vom Parkplatz rollte.
Die Karte zeigte das Dorf, in dem Opa aufgewachsen war. Es war ein gutes Stück von unserem Städtchen entfernt. Doch vor uns lag der ganze Tag.
«Opa, Frau Stauder hat mir erzählt, dass du lernen willst, wie man Gitarre spielt?»
«Ich dachte, es sei eine witzige Idee.»
Opa und seine zahlreichen Ideen. Einmal hatte er mir sein Büchlein gezeigt, in dem er alle seine Ideen notierte. Fallschirmspringen. Nach Bhutan wandern. Einen Roman schreiben. Sich einen Papagei zulegen und ihm das Fluchen beibringen – einer der Punkte, die Opa abhaken konnte.
«Das sind ziemlich viele Ideen», hatte ich zu ihm gesagt.
«In meinem Kopf ist es wie in einem Gewitter.»
«Die sind so unruhig und laut.» Ich flüchtete mich in die Stille.
Aber Opa liebte Gewitter. Mit einer Tasse schwarzem Kaffee setzte er sich ans Fenster und bewunderte die Blitze, die über den stürmischen Himmel zuckten. Er mochte die Wolken, die sich aufeinanderstapelten wie Bauklötze.
Opas enttäuschte Stimme holte mich zurück in die Gegenwart.
«Frau Stauder meinte, es sei keine gute Idee.»
«Ich finde sie brillant.» Frau Stauder, Opas Pflegerin mit dem verkniffenen Mund, mochte ich nicht sonderlich. «Es ist dein Leben. Nicht das eines anderen.» Diese Worte hatte Opa an mich gerichtet, als ich das Studium abgebrochen hatte, um eine Ausbildung in einer Buchhandlung zu beginnen. Nun gab ich ihm die Worte zurück.
Ich bog auf die Autobahn ab. Hinter dem Steuer fühlte ich mich noch etwas unsicher, doch das Tempo, mit dem der Trabi über die Strasse fuhr, war angenehm. Die anderen Autos zogen an uns vorbei. Opa begann zu singen. Irgendwelche alten Lieder. Seine tiefe Stimme füllte den kleinen Wagen aus. Er genoss es, wieder im Trabi sitzen zu können. Ich stimmte in seinen Gesang mit ein. Ab und zu unterbrach uns Fridolin mit einem Fluchwort. Es war schön, wieder Zeit mit Opa zu verbringen. Er hatte das Fenster runtergekurbelt und der Fahrtwind verwehte meine Haare. Ein breites Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
Die Fahrt verging dann doch viel zu schnell. Ich parkierte den Trabi vor einer Gelateria.
Erkannte Opa, wo wir waren?
«Ich spendiere dir ein Eis.»
Gemeinsam betraten wir die Gelateria. Bis auf die Frau mit dem feuerroten Haar, die hinter dem Tresen stand und in einer Zeitschrift blätterte, waren wir alleine.
«Was darf’s denn sein?»
Seufzend griff sie nach dem Eisportionierer. Sie starrte uns an und ihr Blick sagte:
«Beeilt euch.»
Opa liess sich Zeit. Sorgfältig studierte er die verschiedenen Sorten, bis er sich entschied. Mit den Eiswaffeln in den Händen verliessen wir das Eiscafé. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch. Fridolin schlug begeistert mit den Flügeln, als wir ihn mit Brösel der Eiswaffeln fütterten. Ich wischte mir die Hände an der Hose ab. Wir sollten uns auf den Weg machen. Aus dem Kofferraum des Trabis holte ich eine Schaufel.
«Ich weiss, wo wir sind», sagte Opa, als wir auf dem Weg zur Trauerweide durch die Strassen des Dorfes schlenderten. Ich nickte.
Die Trauerweide stand am Ufer eines Sees. Einige ihrer Äste fielen in das klare Wasser. Hier war es also. Ich überreichte Opa die Schaufel.
«Du solltest das tun.»
Ob er noch wusste, was er vergraben hatte? Der Spaten durchbrach die Erde. Als Opa nicht mehr mochte, schaufelte ich weiter. Zusammen gruben wir ein hölzernes Kästchen aus. Wir liessen uns ins Gras fallen und Opa legte sich das Kästchen auf die Knie. Vorsichtig hob er den Deckel an. Ich beugte mich vor. Im Innern lag eine Schneekugel – ein Schiff zwischen stürmischen Wellen. Opa nahm sie in die Hände. Tränen traten ihm in die Augen.
«Die hat Otto mir geschenkt.»
Otto war Opas Bruder gewesen. Ich wusste nicht viel über ihn, nur, dass er früh gestorben war und Opa deswegen die Schule geschmissen und dem Dorf den Rücken gekehrt hatte.
«Ich war traurig und wütend. Auf der See fand ich Trost», hatte Opa mir erzählt.
Er schüttelte die Schneekugel. Weisse Flocken tänzelten umher. Eine Träne hinterliess ihre Spur auf seiner Wange. Ich schloss Opa in meine Arme.
«Ach, Nelly. Die 77 – die Sieben im Doppelpack – war auch seine Lieblingszahl.»
Er löste sich sanft von mir.
«Das war ein wundervoller Geburtstag. Danke.»
Opa lächelte. Seine Zähne waren leicht schief und gelblich, doch es war ein schönes Lächeln.

Von Caroline Buck, G2H