2019, Essay, Im Fokus, Sage & Schreibe Nr. 30, Traum

Indigene Visionen und Weltbilder als Alternativen zum europäisch-westlichen Denken

Weltwahrnehmung. Welch eine Vieldeutigkeit schwingt in diesem einen Wort. Wie kaum ein zweites in der deutschen Sprache vermag es sämtliche Ausrichtungen des menschlichen Ingeniums zu umreissen. Jede Meinung, jede Ahnung und Erinnerung, gar jede emotionale Regung ist Weltwahrnehmung, vorausgesetzt man bezieht die Begrifflichkeit Welt auf alles Äussere, das den Menschen umgibt und auf ihn wirkt – so auch die Begegnung mit sich selbst –, und bezeichnet Wahrnehmung als Informationsfluss aller Sinne. Menschliches Handeln wäre somit als Ausdruck der Weltwahrnehmung zu verstehen, als subjektiv gesetzte Folgerung und Konsequenz. Aus der täglich zu beobachtenden Subjektivität des Tuns – selbst innerhalb kollektiv organisierten Agierens – lässt sich wiederum auf die Einzigartigkeit der jeweiligen Wahrnehmung schliessen. Davon ausgehend, dass alle Wahrnehmungsperspektiven auf Welt letztlich immer subjektiven Implikationen der jeweiligen Betrachtungsweise unterliegen, wird hier nicht von letztgültigen Aussagemöglichkeiten ausgegangen.

Sämtliche Ausführungen der Geistes- sowie der Naturwissenschaften bleiben also stets Beschreibungen und Berechnungen von Bewusstsein und Kosmos, die innerhalb ihres Blickwinkels interessante Darstellungskonstrukte der Perzeption bieten, zerrinnen aber gleichzeitig ohne den spezifisch gesetzten Bezugsrahmen der Ausrichtung und Dynamik des menschlichen Geistes in der Unendlichkeit. Wir bewerten und berechnen keine bestehende Realität, vielmehr schaffen wir diese uns selbst mit Projektionen und Inventionen. So sind auch die Philosophie, die Literatur– und die Geschichtswissenschaft standortgebunden, und obwohl ihre Aussagen auf kritischer Reflexion und logischer, nachvollziehbarer Argumentation beruhen, können sie dem Anspruch der Objektivität nicht gerecht werden. Die Sache scheint verflixt zu sein! Sobald man versucht, eine vermeintliche Wirklichkeit mit der eigenen Sprache in ein Konstrukt zu drängen, wird einem immer wieder die eigene Unzulänglichkeit demonstriert. Die Proklamation der subjektiven Wahrnehmung wird also zum persönlichen Eingeständnis, dass nicht nur Realität per se unzugänglich ist, sondern dass auch immer andere Bilder und Denkmodelle ausserhalb der eigenen Weltwahrnehmung existieren.

Drehen wir den Spiess doch einfach um: Solange wir die Subjektivität unserer Aussagen mit all ihren Konsequenzen akzeptieren, also die relative Aussagekraft der eigenen Worte hinnehmen und damit eine problematische Selbstidealisierung vermeiden, beginnt alles plötzlich Sinn zu machen. Deswegen ist es kaum sinnvoll, zu fragen, was denn die Welt sei oder was sie im Innersten zusammenhalte, vielmehr interessiert, wie sie von einzelnen Protagonisten wahrgenommen wird und welche Handlungsmuster von diesen Menschen auf Grund dessen in Bewegung gesetzt werden.


[Bild: John G. Neihardt, 1931 | www.neihardt.com]

Im Folgenden soll daher die Weltsicht eines einzelnen Protagonisten aus der grossen Truhe der Weltgeschichte veranschaulicht werden. Es handelt sich dabei um den mit den alten Bräuchen der Lakota Sioux Kultur gross gewordenen Visionär, Heiler und Wicaśa Wakan (Heiliger Mann) Nicholas Black Elk (ca. 1863-1950), also einen nordamerikanischen Indianerhäuptling. Weil sich die Perspektive auf Welt von Black Elk im Gegensatz zu vielen Texten aus dem europäisch-westlichen Kulturkreis in Bezug auf Andersartigkeit derart abgrenzt, fokussiert sich unser Interesse auf die zentrale Frage, welche Perzeption von Welt, ja welche Varianten des Lebens wir in unserer Zivilisation im «kulturellen Gedächtnis» (Jan Assmann) im Vergleich zur indigenen Interpretation von Welt vergessen oder womöglich gar nie gekannt haben:
Für Black Elk ist das Sezieren der Welt in Einzelteile (so wie wir das in unseren Breitengraden kennen) und somit die Sinnsuche in diesen unendlichen Möglichkeiten von Existenzformen nicht von Interesse, vielmehr geht es ihm darum, das Ganze bestehen zu lassen und sein persönliches Agieren zu dessen Wohle einzusetzen. Um dieser universellen Verbindung willen spricht er von der Allegorie des Sacred Hoop (Heiliger Kreis), der eben alle «Zwei- und Vierbeiner» sowie alle anderen Kreaturen und Dinge der Erde miteinander zusammenbringt, ohne zugleich das Einzelne oder den Einzelnen in hierarchische Existenzwertschemata einzufügen, sprich: Niemand und nichts hat mehr oder weniger Wert als der oder das andere.
Uns Angehörigen einer globalisierten Welt, die den gesamtgesellschaftlichen Nutzen des Lebens meist im technischen Fortschritt und im reibungslosen Ablauf vom Prozess des Produzierens und Verkaufens von Gütern – also im Wohlstand – erkennen, fällt es sicherlich schwer, davon auszugehen, dass irgendwelche Kreise einen Beitrag an die moderne Gesellschaft einflechten könnten. Vielmehr wirken das Geheimnis der menschlichen Existenz und sämtliche Naturerscheinungen nicht länger geheimnisvoll und mystisch verklärt. Denn zumindest im okzidentalischen Kulturkreis sind inzwischen der Wille und die Erfahrung kollektiv verinnerlicht, dass alle uns erscheinenden Aspekte der Welt letztendlich rational logisch – also innerhalb eines zusammenhängenden Systems auf Ursache und Wirkung basierend – erklärbar sind. Das bisher Unverstandene in der Natur und beim Menschen wird als Faszinosum anerkannt, das noch nicht begriffen ist. Bis dahin gilt es im Alltag als inexistent oder gar pathologisch.

Für Black Elk sind sämtliche organischen und anorganischen Materien um uns herum lebendig, agieren miteinander und weisen sich gegenseitig den Weg. Alle Erscheinungen dieser Welt sind wakan, also heilig, und dienen dem Zweck des Ganzen. Geist und Materie – Psyche und Physis – sind in seinen Augen universell miteinander verbunden, reagieren aufeinander und kreieren und gestalten sich gegenseitig. Interessanterweise kommen Naturwissenschaften auf ähnliche Resultate: In der Quantenphysik wird das Phänomen beobachtet, dass sich Teilchen trotz großer lokaler Distanz im Einklang zueinander bewegen können. In der Neurobiologie wird verstanden, dass Gedankengänge und Gewohnheiten das Gehirn physisch verändern und umgekehrt. Mit anderen Worten modifiziert das geistige Wie das materielle Was. Dieses umgeformte Was (das Organ Gehirn) lässt für das geistige Wie (Wahrnehmung, mentale Prozesse) die Welt wiederum in einem anderen Licht erscheinen.

In Black Elks Ursprungskultur liegt auf dem genannten Kreis eine horizontale Black Road, auf der wir Menschen die Beschwerden des irdischen Leids durchleben. Diese kreuzt eine vertikale Red Road, die als Verbindungsmöglichkeit mit Wakan Tanka (Grosses Geheimnis) verstanden wird und den Weg eröffnet, eben diesem Geheimnis intuitiv näher zu kommen und damit Aufbau und Sinnhaftigkeit von Welt in Form von Träumen und Visionen kontemplativ zu erfahren. Mit anderen Worten gibt es in jedem Moment die Möglichkeit einer geistigen Erhebung, die auch anzustreben ist. An der Schnittstelle der beiden Strassen befindet sich der sogenannte Sacred Tree, der traditionell in der Mitte des Kreises anzusiedeln ist.
Diese indigene Wahrnehmung von Welt liegt fernab jeglicher Erkenntnis, die verstandesmässig nachzuvollziehen ist und gleichsam wie ein Gral seit spätestens dem 18. Jahrhundert innerhalb der westlichen Welt und darüber hinaus ihre unanfechtbare Wirkung entfaltet. Der aufgeklärte Mensch hat vormoderne Ängste wie jene vor verhexten Frauen etc. ja gerade mithilfe der Ratio ablegen können, ohne Zweifel ein hochzuschätzender Meilenstein der Würde anderen und sich selbst gegenüber! Doch gleichzeitig hat er sich dadurch völlig unbemerkt eine andere Angst zugelegt, nämlich jene, bei seiner Entdeckung der Welt die kantianische Vernunft verlieren zu können und dabei ungewollt auf Wahrnehmungsmöglichkeiten seiner selbst zu stossen, die seinen Verstand vorübergehend nicht benötigen.

Von Christoph Neidhart, Deutsch- und Geschichtslehrer