2023, Aktuelles, Im Fokus, Interview, Sage & Schreibe Nr. 36, Zeit

«Im Gefängnis lebst du in der Vergangenheit»

Für den Rest des Lebens eingesperrt sein. Wegen weniger Minuten, wegen eines grossen Fehlers. Das ist die Realität von B. der heute 56-Jährige wurde im April 2009 festgenom- men und bekam achteinhalb Jahre später das Urteil. Seither verbüsst er eine lange Frei- heitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lenzburg.* Vor seinem Tod wird er das Gefängnis wahrscheinlich nicht mehr verlassen. Wie er damit umgeht, was das mit einem Menschen macht und was Zeit für ihn bedeutet – mit sage&schreibe hat er darü- ber gesprochen.

Von Alexandra Ihle, G19A

Wir sitzen uns am Tisch gegenüber, im Büro des Gefängnis- direktors. Wir sind allein, niemand sonst hört zu oder über- wacht das Gespräch.
Er wirkt ruhig, freundlich und ganz normal. B. ist Biblio- thekar in der JVA; ein Job, der ihm Selbstständigkeit gibt, mehr jedenfalls als sein vorheriger in der Joghurtproduktion, und über den er mit Begeisterung spricht. Wegen gesund- heitlicher Probleme und seines Interesses am Lesen und Schreiben hat er vor zwei Jahren den Beruf im Gefängnis ge- wechselt. Die Arbeit tue ihm gut, sagt er, weil er selbst denken und Entscheidungen treffen müsse. Mit seinen Mithäftlin- gen versteht er sich gut, auch wenn er mit keinem befreundet ist. Denn im Gefängnis schliesst man keine Freundschaften. B. umschreibt das Zusammenleben als «Zwangsgemein- schaft». Und selbst wenn man doch mal so etwas wie einen Freund habe, sei der irgendwann weg. Denn auch im Ge- fängnis steht die Zeit nicht still. Immer, wenn jemand ent- lassen wird, merkt B., dass das auch für ihn gilt. Das Leben geht weiter, auch wenn wieder einer weg ist.

Das Urteil
Schon seit dreizehneinhalb Jahren ist B. eingeschlossen. Die ersten 20 Monate verbrachte er in U-Haft, das heisst: 23 Stunden am Tag allein in der Zelle. In dieser Zeit habe er in der Schwebe gelebt, nicht gewusst, wie das Urteil aussehen würde. Er habe sehr lange – und er meint: zu lange – gewartet, bis er Klarheit hatte. «Ich wurde immer wieder hingehalten», sagt er, «die Justiz spielte auf Zeit.» Der Prozess dauerte ins- gesamt 14 Monate, auf das Urteil des Obergerichts, der nächsthöheren Instanz, wartete er weitere zweieinhalb Jahre. Darüber erzählt er fast schon mit einem Schmunzeln, weil alles so lange gedauert hat. Vor fünf Jahren schliesslich bekam er das endgültige Urteil. «Ich bleib also noch eine Weile», sagt er mit hörbar sarkastischem Unterton. Er ist auch realistisch und weiss, dass die Chancen, vor dem Tod aus dem Gefängnis zu kommen, ziemlich klein sind, auch wenn er sich um besonders vorbildliches Verhalten bemü- hen würde. Er ist ehrlich: «Ob du dich hier drin gut oder schlecht verhältst, interessiert eigentlich niemanden.»

Die Alltagsroutine
Sein Tag ist durchstrukturiert, jeder läuft genau gleich ab. Es ist ein Rhythmus, an den man sich nicht nur gewöhnt, sondern von dem man abhängig wird. Diese Routine macht es schwierig, sich geistig fit zu halten. Man verlernt alles und ergibt sich dem immergleichen Trott. Uhrzeit und Datum – B. vergisst es manchmal, weil er durch die vorgegebene Ta- gesstruktur nicht mehr auf die Uhr schauen muss. Früh- stück, arbeiten, eine Stunde frei, Mittagessen, wieder arbei- ten, wieder Freizeit, Abendessen – und bis zum nächsten Frühstück eingesperrt sein. Um eine Abwechslung in seinem monotonen Alltag zu haben, macht er in der Theatergruppe mit, und hier ist wieder so etwas wie Begeisterung zu spüren. Beim Theaterspielen könne er zusätzlich sein Gehirn «be- wegen», sagt er. So bleibe er «geistig nicht hängen». Auch mit anderen Beschäftigungen verbringt er seine sogenannte Freizeit. Zum Beispiel im Hof spazieren gehen. Doch Tag für Tag, Jahr für Jahr den gleichen Hof zu sehen, das ist frustrierend und anstrengend. Auch jetzt, da er davon erzählt, merkt man, dass ihm dies zusetzt. Die meiste Zeit verbringt B. in der Zelle, wo ein Fernseher steht. Sein Gesicht hellt sich auf, denn der Fernseher ist so etwas wie Luxus – und die einzige Möglichkeit, sich genauer über das, was in der Aussenwelt gerade passiert, zu informieren. B. gehört zu den wenigen Insassen, die sich überhaupt dafür interes- sieren, was gerade ausserhalb der Gefängnismauern ge- schieht. Viele wollen es gar nicht wissen. Er aber hat über aktuelle Geschehnisse, wie zum Beispiel den Krieg in der Ukraine, eine klare Meinung; auch an Abstimmungen nimmt er teil, obwohl er weiss, dass seine Stimme ihn nie betreffen wird.

Die grosse, weite Welt
Trotz seines Interesses für aktuelle Ereignisse merkt man, dass B. über Dinge, die für uns selbstverständlich sind, nicht Bescheid weiss. Seit 2009 hat sich die Welt digitalisiert und politisch verändert. In der Zeit vor seiner Verhaftung gab es noch keine Smartphones oder Geräte mit Touchscreen, mit Social-Media-Apps kennt er sich fast gar nicht aus, und als er einmal darauf angesprochen wurde, warum er nur die männliche und nicht auch die weibliche Form verwende, war er verwirrt. – B. macht sich nichts vor: Im Gefängnis ist die grosse, weite Welt trotz Fernsehgerät eben doch sehr weit weg.

Die Einsamkeit
Dass B. der Gefängnisalltag zusetzt, steckt er nach eige- ner Einschätzung ziemlich gut weg. Während des ganzen Gesprächs erzählt er offen und direkt, wie seine Situation aussieht und was er denkt. Er weiss, dass er eine unverzeih- liche, nicht wiedergutzumachende Straftat begangen hat – und er zeigt sich einsichtig, ist der Meinung, dass Strafe sein muss. Während er das sagt, wirkt er beschämt und weist mit Nachdruck darauf hin, dass er noch dieselbe Person sei wie vorher. Ein ganz normaler Mensch, der einen Beruf und ein Haus hatte, der eine Familie hat. Die Erinnerungen an das Leben davor sind in seinem Kopf abgespeichert, als wäre die Zeit stillgestanden. Wenn er hingegen telefoniert (höchstens vier Mal pro Woche wäh- rend zehn Minuten) oder wenn er Besuch hat (einmal pro Woche für zwei Stunden), fühlt es sich an, als würde die Zeit rennen. Während der Corona-Pandemie fielen die Besuche gar ganz aus. B. durfte seine Familie nicht sehen. «Und dann», sagt er, «beim ersten Besuch nach zwei Jahren – er- kannte ich meine Enkelin nicht mehr.» Überhaupt, sagt er, sei es nicht einfach mit den Besuchen. Früher habe seine Familie ihn jede Woche besucht, nun kämen sie nur noch sporadisch. «Ihr Leben geht halt weiter, auch ohne mich.» Er lehnt sich zurück, senkt den Blick. «Die Familie ist un- glaublich wichtig. Sie macht dich weniger einsam. Trotzdem: Du bist hier allein.»

Die Perspektive
Im Gegensatz zu anderen Insassen hat B. in Bezug auf die Haftentlassung keine Perspektive. Eine Zukunft draussen wird es kaum geben. Eine Zukunft hinter Gittern aber, sagt B., sei eigentlich keine. Denn da gebe es nichts, worauf er hinarbeiten könne, keine echte, erfüllende Beschäftigung. «Die Zeit im Gefängnis ist bei längeren Strafen sowieso ver- geudete Zeit. Im Gefängnis lebst du in der Vergangenheit, denn die Gegenwart ist monoton, fühlt sich leblos an, und eine echte Zukunft gibt es nicht.» Für B. das Schlimmste aber: In der Vergangenheit, die als Einziges bleibt, liegt der Grund für das ganze Elend, doch die Vergangenheit wird sich nie ändern.Das Gefängnis ist seine Realität. Daran ändert sich nichts. Frustriert und mit einem resignierten Schulterzucken sagt B.: «Es ist ein Sterben auf Raten, eine Art Todesstrafe, bei der sich keiner die Hände schmutzig machen muss.»
Dennoch: Das Leben in Gefangenschaft versucht er in Würde zu leben. «Ich schätze Höflichkeit», sagt er zum Schluss. «Ich finde körperliche Gewalt sinnlos und versuche jeden Tag so zu leben, wie es für mich passt.»


[ Bild: Alexandra Ihle]

* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes dürfen hier weder der richtige Name von B. noch das von ihm begangene Delikt oder das genaue Urteil erwähnt werden.