Was bedeutet es, als junge Frau in der Politik aktiv zu sein? 43 Jahre nach der Einführung des Wahlrechts der Frau besteht noch keine ausgewogene Verteilung der Geschlechter auf politischer Ebene. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die für Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau einsteht. Irène Kälin ist seit fünf Jahren im Grossen Rat und Präsidentin der Grünen Lenzburg.
Frau Kälin, hatten Sie ein Schlüsselerlebnis, das sie zur Politik führte?
Irène Kälin: Ja und nein. Ich war irgendwie schon immer politisch, Fragen der Ungerechtigkeit auf der Welt, aber auch in unserer Gesellschaft haben mich schon immer beschäftigt. Aber bis zu meinem Nachrücken in den Grossen Rat vor fünf Jahren habe ich nie daran gedacht, Politik in einem Amt zu machen, sondern fühlte mich wohl in der Rolle der politischen Aktivistin.
Warum glauben Sie, gibt es weniger Politikerinnen?
Kälin: Weil die Politik noch immer – auch im Jahre 2015 – eine primär männliche Domäne ist und weil die bürgerlichen Parteien es offenbar nicht schaffen, jeweils mit ausgewogenen Listen anzutreten. In den linken Parteien hat es erstaunlich schnell und gut geklappt, eine mehr oder weniger ausgewogene Vertretung in allen Ämtern zu erreichen.
Werden Sie als Frau anders behandelt als ihre männlichen Parteikollegen?
Kälin: Nicht generell, aber es gibt leider doch Momente, in welchen man sich als Frau in der Politik andere Fragen anhören muss: „Denken Sie, dass sie gewählt wurden, weil sie eine junge, attraktive Frau sind?“ Keine Frau macht Politik, weil sie gut aussieht. Frauen machen genauso Politik aus Überzeugung wie Männer. Nur ist das offenbar noch nicht überall angekommen.
Das Durchschnittsalter im Grossen Rat beträgt 45,6 Jahre. Sie liegen eindeutig unter diesem Durchschnitt. Denken Sie, dass das für Sie eher ein Vorteil oder ein Nachteil ist?
Kälin: Ich sehe es insofern als Vorteil, dass ich eine Generation vertrete, die massiv untervertreten ist. Gleichzeitig ist es natürlich ein Nachteil, nicht für mich, sondern für die Gesellschaft, dass die junge Generation in den politischen Gremien nicht angemessen vertreten ist. Nur eine gute Durchmischung der Generationen, Geschlechter usw. kann die Gesellschaft adäquat vertreten.
Haben junge Politiker oder Politikerinnen überhaupt eine Chance, in die Politik einzusteigen?
Kälin: Ja, es gibt erfolgreiche Beispiele, nur leider viel zu wenige. Bei vielen Parteien müssen die Jungen hinten anstehen und bis sie dann einmal ein Amt ausüben dürfen (bzw. einen guten Listenplatz mit Wahlchancen bekommen), sind sie dann bereits auch etwas in die Jahre gekommen. Da müssen alle Parteien, insbesondere die bürgerlichen, noch umdenken lernen.
Denken Sie, dass die Jugend von heute sich zu wenig für die Politik interessiert?
Kälin: Es gibt mir zu denken, dass die Stimmbeteiligung bei Wahlen und Abstimmungen bei der jüngsten Generation ungleich tiefer ist als bei allen anderen Altersschichten. Wenn ich junge Menschen auf der Strasse treffe, habe ich nicht das Gefühl, dass sie apolitisch sind. Vielmehr dass ihnen das Schweizer Politiksystem zu träge ist und sie daher wenig Hoffnung haben, dass sich etwas verändern wird. Zudem gibt es wenige Themen, welche sich insbesondere den Problemen der jüngeren Generationen annehmen. Das wiederum ist auch nicht verwunderlich, weil die junge Generation massiv untervertreten ist in den politischen Ämtern.
Hätten Sie persönlich vielleicht gerne mehr junge Leute in der Politik?
Kälin: Ja, unbedingt. Jedoch bin ich nicht grundsätzlich für Junge oder gegen Alte. Aber solange die älteren Generationen in der Schweizer Politik die Überhand haben, setzte ich mich für Junge ein, denn nur eine ausgewogene Vertretung aus allen Altersschichten bringt uns weiter und spiegelt die Bevölkerung wieder.
Wie könnte man junge Menschen für Politik begeistern?
Kälin: Ich denke nicht, dass es da ein Rezept gibt, aber viele kleine Rezepte zusammen. Vorbilder können mobilisieren, sprich junge Menschen in der Politik haben sicher einen einfacheren Zugang zu jungen Menschen und ihren Problemen. Zudem müssen die Jugendparlamente aufgewertet werden. Sie sollten die Möglichkeit erhalten, richtig am politischen Schaffen teilzuhaben, in dem ihre Ideen und Forderungen in die kantonalen und nationalen Parlamente eingebunden werden. Das ist leider erst in wenigen Kantonen der Fall. Zudem fordere ich eine tiefere Ansetzung des Stimmrechtsalters. Man wird nicht erst mit 18 politisch. Jugendliche, die eine Lehre machen oder in einer Ausbildung sind, sind direkt von der Politik betroffen und reif genug, sich daran zu beteiligen. Das Stimmrechtsalter 16 wäre mehr als angebracht.
Was möchten Sie persönlich noch als Politikerin ändern?
Kälin: Es gibt noch viel zu tun. Mehr Lebensqualität, mehr Bildung, mehr Transparenz, mehr erneuerbare Energie, mehr Solidarität, mehr Asylsuchende und vor allem mehr Unterkünfte, konsequenterer Umwelt- und Landschaftsschutz, mehr Toleranz, mehr Verständnis für andere Kulturen und Religionen. Das Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich muss gestoppt und wieder geschlossen werden. Der Atomausstieg braucht dringend ein Datum. Ausländer und Ausländerinnen sollen auch eine Mitgestaltungsmöglichkeit an der Politik bekommen. Junge Menschen sollen früher mitbestimmen dürfen. Wir brauchen eine andere Asylpolitik, welche auf Menschlichkeit und nicht auf Ausgrenzung beruht. Es braucht Lohnkontrollen, damit Frauen endlich den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit erhalten, wie es das Gesetz schon seit Jahren vorschreibt. Familienpolitik muss neu überdacht werden und den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen (Patchwork-Familien, Alleinerziehende, gleichgeschlechtliche Paare usw.), und es braucht mehr bezahlbare Krippenplätze und endlich eine gesetzliche Grundlage dafür im Kanton Aargau. Es gäbe noch unendlich viel zu tun, und es braucht junge engagierte Politiker und Politikerinnen, die Lust haben mitzugestalten.
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
Kälin: Diese Frage mochte ich noch nie. Bis jetzt hat mein Leben einige Kurven eingelegt auf meinem Weg, um welche ich von Herzen dankbar bin. Deshalb möchte ich keine Prognosen über meine Zukunft abgeben. Eines ist aber sicher: Jetzt steige ich in den National- und Ständeratswahlkampf und will als Grüne Vertreterin des Kantons Aargau nach Bern.
Was für einen Ratschlag möchten Sie jungen Frauen auf den Weg geben?
Kälin: Ich glaube nicht, dass Frauen einen besonderen Ratschlag brauchen. Heutige junge Frauen haben das Glück, dass schon ich hatte, dass sie in einer gesetzlich gleichgestellten Schweiz aufwachsen dürfen, und das macht uns stark. Das Einzige, was wir jungen Frauen nicht vergessen dürfen, ist, dass der Kampf für diese Rechte noch nicht lange her ist und noch nicht alles umgesetzt wurde, was in den Gesetztestexten steht. Deshalb müssen wir weiterhin bereit sein zu kämpfen, damit wir für gleiche Arbeit auch den gleichen Lohn erhalten, damit es mehr familienergänzende Kinderstrukturen gibt, so dass sich Karriere und Familie vereinbaren lassen. Ich sehe dies aber nicht alleine als ein Anliegen von Frauen für Frauen, sondern als ein Anliegen, das wir zusammen mit Männern erreichen müssen.
Tanja Brenner und Jocelyne Naumann (Freifach Politische Bildung)