2019, Essay, Glück, Im Fokus, Sage&Schreibe Nr. 29

Warum Lesen unglücklich macht

Glück ist als Dauerzustand im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen. Diese melancholische Einsicht verdanken wir Sigmund Freud, dem 81-jährigen Hellmuth Karasek und der Firma Ikea. Freud schrieb sie 1930 in Das Unbehagen in der Kultur nieder; der berühmte Literaturkritiker Karasek zitierte sie 2015 in einem Werbespot für Ikea: In einem behaglichen Sessel rezensiert Karasek «das meistverbreitete Buch der Welt», nämlich den Ikea-Katalog. Er liest: «Glück ist, wenn du ein superbequemes Sofabett, ein paar Beistelltische und eine gute Wifi-Verbindung hast». Daraufhin lässt er den Katalog sinken, schaut halb besserwisserisch, halb milde in die Kamera und kontert mit Freud.
Karasek ist kurz darauf verstorben. Wenn wir posthum den Ikea-Spot sehen, denken wir vielleicht: Ausgerechnet ein Mensch, der sein Leben mit Lesen verbracht hat, sagt nach 81 Jahren, Glück sei nicht möglich. Hat das eine mit dem anderen zu tun? Verlieren wir durch das Lesen den Glauben an das Glück? Macht Lesen unglücklich?
Für eine Expertise über das Glück würde man sich vielleicht nicht prioritär an einen Literaturkritiker wenden. Die solidesten Handwerker des Glücks waren die Philosophen und Propheten der Antike. Der Weise, so die indische Lehrschrift Bhagavadgita, sieht einen Goldklumpen ebenso an wie einen Lehmklumpen. Glück entsteht also, wenn wir uns von unseren Urteilen über die Welt lösen und jedes Ding als das nehmen, was es ist. Der römische Philosoph Seneca riet: «Ducunt volentem fata, nolentem trahunt» – «Es leitet das Schicksal den Willigen, aber den Unwilligen packt es am Kragen und schleift ihn mit», frei übersetzt. Wer glücklich sein will, soll also, auf gut Amerikanisch, Limonade machen, wenn das Leben nichts als Zitronen bringt. Als Boethius, der letzte antike Denker, seiner ungerechtfertigten Hinrichtung entgegensah, erschien ihm in der Todeszelle die Philosophie selbst und ermahnte ihn: Alles – Karriere, Reichtum, Familie – habe die Fortuna ihm gewährt; lange genug habe er es genossen; es sei nur billig, wenn sie es ihm wieder nehme. Überhaupt liege nicht darin das Glück, sondern im richtigen Handeln und im guten Leben.
Nach der Antike hatte in Europa das Glück keine Konjunktur mehr. Mit dem Christentum gewann dafür die Liebe. «Liebe und tue, was du willst», schrieb der Kirchenvater Augustinus. Wer also liebe, brauche sich keine Gedanken darüber zu machen, wie er oder sie ein gutes Leben führen könne, weil die Liebe ihn oder sie lenken werde. Liebe geht für Augustinus als gläubigen Christen von Gott aus. Diese Liebe ist «l’amor che muove il sol e l’altre stelle», bewegt also «die Sonne und die anderen Sterne», wie Dante Alighieri im Italien des 14. Jahrhunderts schrieb. Der höchste mögliche Grad der Liebe ist bei Dante im Paradies verortet, findet also nach unserem Tod statt: Dann liegen die Seelen der ewig Lebenden bei Gott, betrachten diesen mit Liebe und erfahren so dessen Liebe.
Sowohl die Liebe als auch die Schau Gottes sind etwas anderes als Glück. Denn wer glücklich ist, dem oder der fehlt nichts: Glück ist, im «Flow» zu sein, wie der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi es ausdrückte, also im immerwährenden, nicht in die Zukunft blickenden Jetzt. Im Gegensatz dazu setzen sowohl die Liebe als auch Dantes Schau Trennung voraus. Immerhin braucht es für die Liebe zwei. Wir können uns immer nur danach sehnen, mit dem geliebten Menschen eins zu werden; gelingen wird es uns nicht. Und noch Dantes Seelen sind getrennt von Gott – wodurch sie ihn eben lieben und von ihm geliebt werden können.
Dantes Bild der Gott schauenden Seelen beschwört das Bild eines Kinosaals herauf. Dadurch fragen wir uns: Wie verhält sich das Lesen, also eine dem Schauen nahverwandte Tätigkeit, zu Dantes Paradies, zur Liebe und zum Glück? Beim Lesen empfinden wir Sehnsucht noch intensiver. Denn die Schau von etwas ewig Unbewegtem wie Gott ist immerhin ruhevoll. Dantes Seelen im Paradies wollen nirgendwohin, und mit der Schau Gottes sind sie zufrieden. Einen Film hingegen schauen wir oder ein Buch lesen wir, um zu wissen, wie es weitergeht, um das nächste Bild zu sehen, den nächsten Buchstaben zu entschlüsseln. Das Lesen lässt uns also keine Ruhe, sondern schickt uns auf eine rastlose Reise. Auch lesen wir paradoxerweise, um nicht mehr lesen zu müssen, um gelesen zu haben: um zu wissen, was im Buch steht, oder, im Falle eines Verkehrsschildes, um Gas zu geben.
Der französische Literaturwissenschaftler Roland Barthes sprach sich für eine Art des Lesens aus, die sich dieser Sehnsucht bewusst ist und sie aushält. In Le plaisir du texte weist er darauf hin, dass «Text» etymologisch gesehen «Gewebe» bedeutet. Barthes erklärt, wir neigten dazu, den Text als Schleier zu sehen, hinter dem sich Sinn und Wahrheit verbergen. Wenn wir läsen, wollten wir diesen Schleier wegziehen. Aber «hinter» dem Schleier bzw. dem Text ist natürlich – nichts. Wie Barthes’ Kollege Jacques Derrida geschrieben hat: «Il n’y a pas de hors-texte». Es gibt kein Ausbrechen aus dem Text: Jeden Sinn, jede Wahrheit können wir wiederum nur als Text formulieren. Somit ist unser Glaube an das Wegziehen des Schleiers eine Illusion. Mehr noch: Das Texthafte, das Textuelle des Textes geht dabei vergessen. Wenn wir uns einbilden, den Text als wegzuziehenden Schleier behandeln zu können, kommt uns zugleich das Lesen als Prozess, als Vorgang, als Arbeit und als Lust abhanden. Eben «le plaisir du texte».
Stattdessen, so Barthes, sollten wir den Schleier als solchen bestehen lassen, damit das Texthafte des Texts nicht vergessen geht. Dies ist eine paradoxe Aufforderung. Denn wenn wir den Schleier überhaupt nicht wegziehen, wenn wir nichts entziffern, wenn wir keine Zeichen lesen, dann ist der Text gar kein Text mehr, sondern nur noch Schleier: ein unverständliches Gewebe aus Papier und Tinte. Egal, was wir also tun: Das Lesen führt uns in die Klemme. Etwas wird uns immer fehlen; immer werden wir uns sehnen.
Auch Karasek weiss, dass Lesen Sehnsucht bedeutet. Es ist immerhin die Lektüre (des Ikea-Katalogs und eines Satzes von Freud), die ihn veranlasst, die Möglichkeit des Glückes anzuzweifeln. Überdies liest er nicht nur, zieht also nicht einfach den Schleier weg, sondern schreibt zugleich das Gelesene neu. Freuds Original lautet nämlich: «Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten». Karasek ergänzt «als Dauerzustand». Vielleicht, räumt Karasek somit ein, gibt es Csíkszentmihályis Flow; aber wenn, können wir diesen nur für eine kurze Weile erleben. Beim Lesen, würde Barthes sagen, aus theoretischen Gründen von vorneherein gar nicht. Na und?, scheint uns Karaseks herausfordernder Blick zu sagen. Er kennt etwas Besseres als Glück: das Lesen. Bewegt von der Sehnsucht, den Schleier wegzuziehen, drehen wir Seite um Seite um und gelangen nie ans Ziel.

Von Stefan Buttliger, Deutschlehrer