Aktuelles, Kultur, Sage & Schreibe Nr. 35

In der sechsundvierzigsten Minute

Von Adriana Catanese, G19K

Das Leben auf dem Land, Früchte und Blumen in allen Farben verwelken mit der Zeit. Zusammen leben wir in einem alten Haus. Meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich. Seitdem ich sechzehn Jahre alt bin, gehe ich nicht mehr zur Schule. Ich helfe unserer Mutter bei der Arbeit, denn sie wurde ihrer Gesundheit beraubt. Sie ist Schneiderin mit jahrelanger Erfahrung. Seit drei Jahren bin ich es auch.
Mein Bruder ist sechs Jahre alt. Wichtig ist er mir, so wichtig wie Mutter mir auch ist. Der Tag, an dem er geboren wurde, zählt zu den schönsten meines Lebens. Neues Leben. Gesundes Leben. Neun Jahre vor der Geburt meines Bruders brachte Mutter in der sechsundvierzigsten Minute der sechsten Morgenstunde ein für immer schlummerndes Kind zur Welt. Ihr Grab befindet sich in unserem Garten. Damals war ich zehn Jahre alt. Wie ungerecht war es, dass meine Mutter ihr geliebtes Kind nie lebendig in die Arme nehmen durfte. Wie ungerecht war es, nie auf die Welt kommen zu dürfen. Wie grausam war der Tod. Und doch schlief sie so friedlich. Dieses Gefühl damals verstand ich nicht, aber es war schrecklich. Ich spürte Mutters Trauer und ich trauerte mit ihr.
Als ich dreizehn Jahre alt war, kurz nach der Geburt meines Bruders, wurde Mutter krank. Sie war kreidebleich, abmagert und stumm. Was anfangs wie eine normale Grippe aussah, entwickelte sich zur langen Krankheit, wovon sich Mutter nie vollständig erholt hat. Seither bereitet mir jedes Räuspern und Hüsteln Unmengen an Sorgen. Es war auch in jenem Jahr, dass uns Vater verliess.
Seitdem bekam ich ihn nie wieder zu Gesicht.
Das Arbeitszimmer ist mit Garn und Stoff in allen Farben des Regenbogens ausgerüstet. Das grosse Fenster dient als traumhafte Lichtquelle zu jeder Jahreszeit. Pflanzen in allerlei Grüntönen schmücken den Raum. Ein grosser Tisch, mit den angefangenen Arbeiten dieser Woche, steht in der Mitte des Raumes. Mutter war diesen Morgen ausser Haus, um ein Kleid für das Nachbarskind auszuliefern. Über die Jahre habe ich, ohne es zu merken, ein Auge entwickelt, mit dem ich Mutter stets analysiere. Doch weiss ich oftmals nicht, ob mich meine eigenen Ängste täuschen. Als würde ein Schleier meine Augen bedecken, trügt mich meine eigene Wahrnehmung. War sie gestern langsamer im Nähen der Hosentaschen? Hatte sie weniger Appetit? War sie erschöpfter als sonst? Womöglich war alles wie immer. Wäre dem nicht so, würde sie selbst es jedoch nie zugeben. Was aber, wenn dem nicht so wäre? Wie könnte ich mir solch Unachtsamkeit meinerseits jemals verzeihen? Ich frage mich, ob ich in der Lage wäre, allein auf meinen Bruder aufzupassen. Schleichend merke ich, wie mich die Panik ergreift. Wie sie in mir aufsteigt, wie das Wasser in einer Badewanne. Wie sie überläuft und in mir in der Form von Tränen unkontrolliert rausströmt. Ich höre etwas krachen. Aus dem Zimmer sehe ich Mutter und Bruder draussen vor dem Fenster der Küche. Ich hatte ihre Rückkehr wohl nicht bemerkt. Das Schlimmste ahnend, eile ich in ihre Richtung. Ein regloser Vogel auf dem Boden ist der Grund unserer Versammlung. «Der arme Vogel ist in das Fenster geflogen», sagt Mutter. Mein Blick wandert zum Vogel. «Er rührt sich leider kein bisschen», sagt sie. Mir dreht sich der Magen um. Ein Kichern bricht die soeben entstandene Stille. War es Wut, die da in mir aufstieg? Wie konnte mein Bruder bloss lachen? Ein Lebewesen, welches kürzlich noch bei uns war, war von einem Moment auf den anderen von uns gegangen. Ewig schlummernd in einer Welt, von der wir nichts wissen. Wie grausam war der Tod. In der sechsundvierzigsten Minute der sechsten Morgenstunde, wovon mein Bruder nichts verstand. Wie grausam war der Tod. Und trotzdem sieht er nun so friedlich aus, ruhend auf dem Boden.
Wir haben den Vogel bei uns im Garten vergraben. Wie es wohl sein wird in dieser Welt, von der wir nichts wissen? Ewig schlummernd wie das Kind und der Vogel. Ich unterbreche meine Arbeit und blicke zu ihr. Behutsam näht Mutter eine feine Stoffblume an den Rock eines Kleides. Ich sehe in ihr schmal gewordenes Gesicht und betrachte ihr grau werdendes Haar. Ich spüre, wie das Wasser in der Badewanne aufsteigt. Dennoch tröstet mich der Anblick, denn selbst die schönsten Früchte und Blumen verwelken mit der Zeit.

Schreibwettbewerb 2022
2. Platz in der Kategorie 2./3. Klassen