2024, Aktuelles, Im Fokus, Interview, Sage & Schreibe Nr. 38, Zukunft

Obsession Zukunft

Die Gegenwart gestalten. Im Moment leben. Irgendwie versuchen wir das ja alle. Immer wieder aber bremst uns dabei die Erinnerung aus, denn die Vergangenheit hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Und die Zukunft? Für uns alle ein weisses Blatt, das wir beschreiben sollen. Das ist unheimlich. Ungelebtes Leben verunsichert, weckt Ängste und Hoffnungen. Nicht wenige beschäftigt die ungewisse Zukunft deshalb mehr als die Gegenwart. Woran liegt es, dass wir uns so schwertun mit dem Augenblick? Woher die Faszination für das, was noch gar nicht ist? Der Psychologe Prof. Dr. Christopher J. Hopwood von der Universität Zürich liefert Antworten.

Von Alexandra Ellena und Erza Gashi, G21K

Sage&schreibe: Wieso sind Menschen so besessen von der Zukunft?
Prof. Dr. Christopher J. Hopwood: Für uns Menschen ist es entscheidend, unsere Zukunft so gut wie möglich zu planen, da sie unvorhersehbar ist. Auf der emotionalen Ebene trägt das Nachdenken über die Zukunft dazu bei, Stress abzubauen, indem es Hoffnung schafft. Darüber hinaus finden viele Menschen es einfach faszinierend, über Aspekte wie ihre zukünftige Karriere, Familie, Wohnort oder Reisen nachzudenken.

Warum neigen einige Menschen sogar dazu, an apokalyptische Ereignisse zu glauben?
Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass ängstliche Menschen tendenziell dazu neigen, verstärkt über die Zukunft nachzudenken. Bei Menschen mit Depressionen entsteht oft das Bedürfnis, Erklärungen für ihre negativen Gefühle zu finden. Eine Möglichkeit besteht darin anzunehmen, dass die Welt sich nicht so entwickeln wird, wie wir es uns wünschen, und das Leben möglicherweise abrupt endet. Apokalyptische Visionen helfen möglicherweise dabei, die schwer zu erklärenden Gefühle der Depressionen zu ordnen.

Wann ist es sinnvoll, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, und wann lassen wir es besser bleiben?
Einige Menschen sollten möglicherweise mehr über die Zukunft nachdenken, während es für andere besser wäre, dies zu begrenzen. Das Nachdenken über die Zukunft kann negative Denkmuster verstärken, wie es bei Depressionen und Angstzuständen der Fall ist. Menschen, die an Depression leiden, sollten sich auf die Gegenwart konzentrieren. Ängstliche Menschen sollten sich auf ihre aktuellen Ängste konzentrieren, anstatt diese auszublenden, denn das führt meist dazu, dass die Ängste bestehen bleiben. Impulsive Menschen könnten von mehr Zukunftsorientierung profitieren. Mehr Zukunftsorientierung hilft impulsiven Menschen, langfristige Ziele zu setzen und ihre Entscheidungen bewusster zu treffen, anstatt sich nur von kurzfristigen Impulsen leiten zu lassen.

Welche Rolle spielt das Alter beim Nachdenken über die Zukunft?
Jüngere Menschen, die den Großteil ihres Lebens noch vor sich haben, neigen dazu, mehr über die Zukunft nachzudenken und diese auch besser zu planen, insbesondere in Bezug auf Bildung, Beruf, Partnerschaft und persönliche Entwicklung. Im Gegensatz dazu denken ältere Menschen oft weniger über die Zukunft nach und legen mehr Wert darauf, im Hier und Jetzt zu leben. Das kann bedeuten, dass man lieber Zeit mit geliebten Menschen verbringt oder persönlichen Interessen nachgeht, anstatt aktiv für eine ungewisse Zukunft zu planen. Wenn man stirbt, sollte das Ziel sein, sich nicht mehr um sich selbst sorgen zu müssen. Loslassen können, wie es so schön heisst, bedeutet auch, sich von den Gedanken an die Zukunft zu befreien. Es ist also nicht leicht zu sterben, wenn man noch an der eigenen Existenz hängt.

Welche weiteren Aspekte beeinflussen unsere Beziehung zur Zukunft?
Wir Menschen können sehr verzerrte Ansichten über die Zukunft haben. Zum Beispiel gibt es eine Studie zum sogenannten «Delay discounting»; das heisst, dass wir Belohnungen in der Zukunft weniger wertschätzen als Belohnungen in der Gegenwart. Objektiv betrachtet aber ist der Wert einer Belohnung nicht abhängig davon, ob ich sie schon bekommen habe oder nicht. Nur, wir Menschen neigen dazu, Belohnungen, die in der Zukunft liegen, abzuwerten. Dies zeigt uns, dass die Beziehung der Menschen zur Zeit ihr Verhalten und ihre Reaktionen beeinflusst.

Ein weiteres Beispiel ist der sogenannte «End of History Effect». Dies ist der Glaube beziehungsweise die Überzeugung, dass man sich von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr verändern wird. Ich habe mich in der Vergangenheit immer wieder verändert und entwickelt, aber von heute an werde ich dieselbe Person bleiben. Dieser Gedanke beruhigt uns, da es für uns nicht leicht ist, mit unserem dynamischen Umfeld umzugehen und uns dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Fast unerträglich scheint uns da der Blick in die Zukunft; wir müssten sie uns mit einer Version von uns vorstellen, die wir nicht direkt beeinflussen können.

Welchen Einfluss hat die Religion auf die Art und Weise, wie wir unsere Zukunft sehen?
Aus der psychologischen Perspektive haben Religionen, wie das Christentum zum Beispiel, den Vorteil, uns eine optimistische Sicht auf die Zeit nach dem Tod zu bieten. Zum Beispiel behauptet die Pascalsche Wette, dass es nie zu spät ist, zu Gott zu finden, auch wenn man sein ganzes Leben lang ein Atheist war oder sogar Verbrechen begangen hat. So hat man wenig zu verlieren, denn stirbt man als Gläubiger, wird man nach dem Tod trotz aller Vergehen ins Paradies eingelassen. Glaubt man gar nicht an Gott und ein Leben nach dem Tod, drohen sowieso keine schlimmen Konsequenzen.

Über welche Aspekte der Zukunft hätte sich dieMenschheit, mehr Gedanken machen sollen?
Es ist heute offensichtlich, dass wir vor einigen Jahrzehnten mehr über den Klimawandel hätten nachdenken sollen. Mit der Veränderung des Klimas werden die Menschen meiner Meinung nach aufmerksamer und denken intensiver darüber nach. Der Klimawandel ist nun unbestreitbar, und wir beginnen die Auswirkungen zu sehen. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser wird aufgrund der Überbevölkerung zu einem Problem. Es gibt also rationale Gründe, äusserst besorgt über die Zukunft zu sein, über welche die Menschen damals leider nicht nachgedacht hatten.

Inwiefern kann psychologisches Wissen helfen, mit der Ungewissheit umzugehen?
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich nicht schliessen, dass man als Psychologe ein besseres Leben führt und besser mit der Zukunft umgehen kann. Sicher, man weiss gewisse Dinge, wie zum Beispiel, dass man sich seinen Ängsten stellen sollte, weil sie einem die Zukunft verbauen. Ich bin mir aber sicher, dass die meisten Menschen das auch wissen. Wichtig ist dabei die Frage; ob man dieses theoretische Wissen in den praktischen Alltag integrieren kann – und auch will.

Die meisten von uns kennen das: Es gibt so etwas wie eine schlechte Version von uns; diese kommt zum Beispiel dann hervor, wenn man mit seinem Partner streitet. Man kann nichts wirklich dagegen tun, bloss beobachten. Die Tatsache, dass ich Psychologie studiert habe, konnte mir in solchen Situationen noch nie weiterhelfen. Die schlechte Version von mir kommt immer noch zum Vorschein, und ich kann immer noch nichts dagegen tun. Am Schluss bleibt immer die Reue und die Entschuldigung.

Dr. Christopher J. Hopwood ist ordentlicher Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Persönlichkeitsveränderung, Interpersonelle Prozesse, Psychopathologie Psychotherapie.
Das Interview wurde auf Englisch geführt. Übersetzung: Alexandra Ellena und Erza Gashi

Bild: Annalea Gottermayer