2024, Aktuelles, Im Fokus, Interview, Sage & Schreibe Nr. 38, Zukunft

Zukunft und Politik 

Klimakrise, Migration, steigende Energie- und Lebenshaltungskosten, rekordhohe Krankenkassenprämien – selten war die Schweiz mit so vielen existenziellen Problemen gleichzeitig konfontiert. Nachhaltige Lösungen erhoffen wir uns von der Politik. sage&schreibe hat mit Martin Bäumle, Nationalrat GLP, und Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz, zwei Politiker aus unterschiedlichen Lagern und Generationen mit Fragen zur politischen Zukunftsgestaltung konfrontiert.

Von Nathalie Tanner und Sorin Lababidi, G21K

Inwiefern wird die «Generation gap» die Politik der Zukunft in der Schweiz beeinflussen?
Martin Bäumle: Es gab diesen Gap schon immer, nur wird er aus meiner Sicht heute stärker zelebriert. Aber wir haben Herausforderungen wie die Altersvorsorge oder den Klimawandel, welche die Generationen oder Länder nur gemeinsam stemmen können. Nachhaltig heisst in beiden Fällen nicht auf Kosten der nächsten Generationen leben, sondern jetzt die Weichen für die Zukunft richtig stellen, damit auch unsere Nachkommen in einer intakten Umwelt mit gesunden Finanzen leben können.

Matthias Müller: Der «Generation gap» wird die Politik der Zukunft beeinflussen, weil junge Leute frische Ideen und eine andere Sichtweise auf die Welt mitbringen. Die Politik sollte mehr Raum für junge Stimmen schaffen, ihre Anliegen ernst nehmen und sicherstellen, dass ihre Perspektiven in Entscheidungen einfliessen.

Welche Rolle wird die systembedingt eher träge Politik in einer sich schnell verändernden Welt spielen?
Martin Bäumle: Die Herausforderungen für eine demokratisch breit abgestützte Politik steigen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass eine breite Abstützung bessere Lösungen hervorbringt, die stabiler sind und gerade auch immer wieder Schnellschüsse verhindern können oder diese zu korrigieren vermögen.

Matthias Müller: In einer Welt, die sich rasant verändert, darf die Politik nicht wie ein schwerfälliger Dinosaurier agieren. Wir brauchen schnelle und pragmatische Lösungen für aktuelle Probleme. Die Politik sollte flexibler sein, bürokratische Hindernisse beseitigen und proaktiv auf Herausforderungen reagieren, um mit der Zeit Schritt zu halten.

Wie begegnet die Politik der zunehmenden Erosion der konsensorientierten politischen Mitte?
Martin Bäumle: Die Lösungen in der Politik kommen meist aus der Mitte heraus und sind so fast immer nachhaltiger. Trotzdem sind die aktuellen Tendenzen, dass die Polparteien das System lähmen könnten, nicht zu unterschätzen. Aber es ist gerade an den konsensorientierten Kräften, immer wieder Lösungen zu finden, die die Herausforderungen mehrheitsfähig bewältigen können, um eben diese Erosion zu verhindern.

Matthias Müller: Die Politik muss der zunehmenden Spaltung in der Mitte entgegentreten, indem sie auf Ausgleich und Zusammenarbeit setzt. Kompromissbereitschaft und der Dialog zwischen verschiedenen politischen Lagern sind entscheidend, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken und extremen Positionen entgegenzuwirken.

Muss die Schweiz ihre Neutralität überdenken?
Martin Bäumle: Die Schweiz wird im Rahmen der aktuellen Krisen ihre Neutralität sicher neu justieren müssen. Aber da ist eine Neutralität à la SVP falsch, die sich fast auf Mythen beruft. Aber auch falsch ist eine neue Neutralität, die sich auf eine reine Wertedebatte fokussiert, die meint, genau in schwarz und weiss und in Gut und Böse einteilen zu können. Die Welt ist komplexer. Auch die Schweiz soll einerseits klar zum Beispiel den Aggressor Russland benennen, darf aber nicht blind die Vorgeschichte in der Ukraine ausblenden und so die lange guten Kontakte zu Russland abreissen lassen und Gespräche mit «dem Bösen» verweigern. Dies verunmöglicht der Schweiz zunehmend, sich in der bewährten Rolle des Vermittlers einzubringen, um den Krieg zu stoppen und eine Lösung zu erarbeiten – auch wenn es fast unmöglich scheint.

Matthias Müller: Die Schweiz muss ihre Neutralität nicht aufgeben, aber sie sollte prüfen, wie sie in der modernen Welt am besten zu einer harmonischen Welt beitragen kann. Als neutrale Vermittlerin kann die Schweiz weiterhin eine wichtige Rolle in internationalen Konflikten spielen und dabei helfen, Frieden und Stabilität zu fördern.

Soll der Umgang mit Künstlicher Intelligenz politisch bzw. gesetzlich geregelt werden?
Martin Bäumle: Aktuell wäre eine politisch isolierte gesetzliche Regelung in der Schweiz fragwürdig. Hier sollten analog z.B. im Umgang mit atomaren Gütern internationale Regeln entwickelt und formuliert werden. Diese sollten auch international überwacht werden, um Missbrauch möglichst zu verhindern. Mit einseitigen Moratorien oder Verboten droht, dass ein Land wie die Schweiz abgehängt wird und weniger stabile Regionen KI-Entwicklungen in Verkehr bringen, die dann zum Schaden aller sein könnten.

Matthias Müller: Künstliche Intelligenz betrifft uns alle. Die Politik muss sicherstellen, dass sie angemessen und transparent eingesetzt wird. Gesetze sollten den Schutz der Privatsphäre und faire Nutzung regeln. Hier können wir in der Schweiz Vorreiter sein und Standards setzen, um die Chancen von Künstlicher Intelligenz optimal zu nutzen.

Wo liegen die grossen Gefahren und Chancen der Zukunft und wie soll die Politik damit umgehen?
Martin Bäumle: Die Probleme, wie gerade der Klimawandel, werden immer globaler. Dafür haben wir heute immer mehr neue und nachhaltige Technologien zur Verfügung, die einen Ausweg ermöglichen. Darum sollten wir lokal und schweizweit das zur Lösung beitragen, was in unserer Macht steht, und uns international weiter vernetzen, um unsere Ansätze auch international zu verankern und durchzusetzen.

Matthias Müller: Die Zukunft birgt Herausforderungen und Chancen, beispielsweise im demografischen Wandel. Eine alternde Bevölkerung wird die Altersvorsorge belasten, während sie gleichzeitig neue Chancen für innovative Lösungen im Gesundheitswesen und der Arbeitswelt schafft. Die Politik sollte darauf abzielen, die Gesellschaft auf diese Veränderungen vorzubereiten und Strategien zu entwickeln, die sowohl den demografischen Herausforderungen als auch den damit verbundenen Möglichkeiten gerecht werden.

Wie lassen sich neue, junge Wähler/-innen-Schichten mobilisieren?
Martin Bäumle: Das ist eine gute Frage, die wohl Jüngere besser beantworten können. Aber letztlich bestimmt die Politik die Zukunft der Jungen mit und darum ist eine aktive Beteiligung auch im Eigeninteresse der Jungen.

Matthias Müller: Um junge Wähler zu mobilisieren, muss unsere Politik zuweilen konkreter werden. Junge Menschen sollten sich in politischen Diskussionen wiederfinden und verstehen, wie Politik ihr tägliches Leben beeinflusst – beispielsweise bei Steuererhöhungen oder der nachhaltigen Altersvorsorge. Digitale Medien bieten eine Plattform, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und politisches Interesse zu wecken.

Was können junge Menschen in der Schweiz tun, um die Zukunft politisch mitzugestalten?
Martin Bäumle: Das Beste ist, sich in die Politik einzumischen, an Abstimmungen teilzunehmen, sich in einer Partei zu engagieren und bei etwas Freude an der Politik auch noch aktiver mitzugestalten.

Matthias Müller: Junge Menschen können die Zukunft mitgestalten, indem sie aktiv werden. Informiert euch über politische Themen, diskutiert mit euren Mitmenschen, schliesst euch Jungparteien an. Nutzt soziale Medien, um eure Stimme zu erheben, und fordert Politiker dazu auf, eure Anliegen zu berücksichtigen. Eure Meinung zählt – gestaltet die Zukunft mit!

Martin Bäumle ist Atmosphärenwissenschaftler und selbständiger Unternehmer.
Seit 2003 Nationalrat für die Grünliberale Partei Schweiz (GLP), die er von 2007-2017 auch präsidierte.
Matthias Müller ist Rechtsanwalt.
Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz (FDP. Die Liberalen) und Vizepräsident der FDP Kanton Zürich.
Beide Interviews wurden schriftlich geführt.


Martin_Bäumle
Bild: Hanna Siegel & zVg


Matthias Müller
Bild: Hanna Siegel & zVg