Unser Selbstwert hat sehr viel mit Nähe und sicheren Bindungen bereits im Säuglings- und Kindesalter zu tun. Die Tatsache aber, dass 40 bis 50 Prozent der Menschen als Kind eine unsichere Bindung erfahren haben, lässt aufhorchen. Prof. Dr. Guy Bodenmann, ein führender Experte in der klinischen Paar- und Familienpsychologie, gibt im Interview vertiefte Einblicke in die Thematik der Bindung beziehungsweise Bindungsstörung im Kindesalter.
Von Tatjana Gligorevic und Anna Piani, G19A
«Stellen wir uns die Psyche als Haus vor. Der Selbstwert ist das Fundament, und alles andere baut darauf auf. Wenn das Dach langsam löchrig wird, die Ziegel nicht mehr festsitzen, kann es sein, dass ein Sturm ein paar Ziegel wegbläst und schlimmstenfalls das Dach davonfliegt. Das Haus an sich aber steht weiterhin robust da – alles ist nicht so schlimm. Wenn hingegen das Fundament schlecht ist, nimmt das Haus schwerere Schäden.»
Prof. Dr. Guy Bodenmann
sage&schreibe: Welche Bedeutung hat «Nähe» für Kleinkinder?
Guy Bodenmann: Im Bindungsaufbau des Säuglings nimmt Stress eine zentrale Rolle ein. Der Säugling ist auf eine feinfühlige Bezugsperson (in der Regel vor allem in den ersten Wochen und Monaten ein Elternteil) angewiesen, die ihm hilft, mit dem Stresserleben umzugehen. Die Befriedigung von Hunger ist dabei genauso wichtig wie die des Bedürfnisses nach körperlicher Nähe und Zuneigung. Damit eine Bindung entstehen kann, muss sich der Säugling durch das Zeigen von Bindungsverhalten das Fürsorgeverhalten seiner Bezugsperson sichern. Dies geschieht unter anderem mittels Weinen oder anderen Lautäusserungen. Wenn die Bezugsperson dann auf die kindlichen Signale reagiert, gibt sie dem Kind einerseits das Gefühl, geliebt zu werden, andererseits erfährt es Kontrolle. Beides schlägt sich später im Selbstwert nieder. Nähe ist also die Hauptschlüsselgrösse für das Verständnis von Bindung beziehungsweise Bindungsstörungen.
Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung?
Wenn ein Kind Hunger hat, wimmert es zunächst, dann weint es, und am Ende schreit es. Ab dem 9. Monat kommt das «operante Schreien» hinzu. Das Kind lässt beispielsweise wiederholt Spielsachen fallen, bis das Spiel zu einem Machtkampf wird und ihm Grenzen gesetzt werden. Diese Art des Schreiens unterscheidet sich vom «Bindungsschreien». Wenn die Eltern das Kind in die Arme nehmen, wird es damit aufhören und stattdessen lachen – weil es «gewonnen» hat. Erziehung wird erst etwa ab dem ersten Lebensjahr relevant. Dann müssen die Eltern die Situation zu steuern beginnen, dem Kind aber gleichzeitig vermitteln, dass sie das nur für sein Bestes tun. Denn bei der Erziehung kommt es einerseits auf Wärme, Liebe und Unterstützung, andererseits auf Strukturen, Regeln und Grenzen an. Beides braucht das Kind, um sich gesund entwickeln zu können.
Was ist mit Eltern, die 100 Prozent arbeiten? Welche Rolle spielt die Zeit?
Zeit ist eine Grundvariable. Wer sich Zeit nimmt für das Kind, vermittelt ihm, dass es wichtig ist. Ausserdem müssen die Eltern mit dem Kind Zeit verbringen, damit sie lernen, das kindliche Bindungsverhalten zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Fehlt den Eltern diese Zeit, dann sollten sie ein «Stützsystem» organisieren: etwa eine Nanny oder die Grosseltern. Da sich ein Kind an drei bis vier Bezugspersonen binden kann, funktioniert das.
Welche Anzeichen zeigen Kinder mit einer Bindungsstörung?
Hierfür muss man zwischen drei Bindungsstilen unterscheiden. Der desorganisierte Typ ist der problematischste und auch der am häufigsten mit psychischen Störungen einhergehende. Dieser entsteht bei schweren Traumata, beispielsweise wenn die Bezugspersonen gewaltsam oder missbräuchlich gegenüber Kindern werden. Die Schutzperson stellt somit gleichzeitig eine Gefahr dar. Das Kind weiss dann nicht, wie es reagieren soll; daher zeigen Kinder mit diesem Bindungsstil häufiger Verhaltensauffälligkeiten.
Unsicher-ambivalent gebundene Kinder sind stets aufmerksam, sie klammern und reagieren bei Trennung von der Bezugsperson mit Weinen. Dabei empfinden sie Angst und Wut zugleich. Ihre Reaktion rührt daher, dass die Bezugspersonen oft nicht da waren und die Kinder so ambivalente Erfahrungen gemacht haben. Beim dritten Bindungsstil, dem vermeidenden, versuchen die Kinder sich ganz ohne Bezugsperson zu regulieren. Sie sind nicht mehr ärgerlich und haben eingesehen, dass sie nicht das bekommen, was sie brauchen. Alle drei unsicheren Bindungsstile sind nicht mit Bindungsstörungen gleichzusetzen, sie erhöhen jedoch das Risiko für psychische Störungen.
Können sicher gebundene Kinder später auch eine Bindungsstörung entwickeln?
Ein Bindungsstil ist zu 80 Prozent stabil, aber nicht irreversibel. Versteht man die Psyche als Haus, könnte man vereinfachend sagen, je nachdem, wie gut das Haus vom Fundament her gebaut ist, hat es eine andere Beständigkeit bei einem Sturm. Jedoch können Traumata auch später in der Entwicklung eine sichere Bindung in eine unsichere transformieren. Die Situation kann sich aber auch wieder zum Guten wenden. Selbst wenn jemand als Kind eine unsichere Bindung erfahren hat, kann das Vertrauen in einer stabilen, glücklichen Beziehung wieder aufgebaut werden, wobei dies natürlich Zeit braucht.
Was ergeben sich bei diesen Arten von Bindungsstörungen für Folgen bezüglich der Schule?
Insgesamt sind alle drei unsicheren Bindungstypen Risikofaktoren für psychische Krankheiten, vor allem der desorganisierte. Aus dem können sich im jungen Erwachsenenalter oft Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickeln. Allen gemeinsam ist der Einfluss auf das Explorationsverhalten. Während sicher gebundene Kinder beim Spielen einen weiten Explorationsradius aufweisen, umhergehen und Neues ausprobieren, bleiben unsicher gebundene eher in vertrauten Umgebungen. Die Schule ist nichts anderes als ein Setting der Exploration. Explorieren und Neugierde setzen emotionale Sicherheit voraus. Einem Kind, das nicht weiss, ob jemand zu Hause ist, wenn es heimkommt, fehlt diese Sicherheit. Das strahlt auf die Schulleistung ab, da diese nicht nur von der Intelligenz, Lernstrategien und der Motivation abhängt, sondern massgeblich auch vom Selbstwert, der eng mit Bindung zusammenhängt. Ein unsicher gebundenes Kind weist zudem Defizite in der Emotionsregulation (Angst, Ärger, Frustration, Traurigkeit), den Sozialkompetenzen und den Kontrollüberzeugungen auf. Es glaubt nicht daran, dass es durch Lernen seine Leistung beeinflussen kann. Diese Kinder erfahren oft auch Prüfungsangst oder Schulunlust.
Inwiefern kann die Schule unsicher gebundene Kinder unterstützen?
Es gibt eine interessante Resilienzstudie, bei der über 40 Jahre hinweg untersucht wurde, welche Kinder, die in ihrer Kindheit einer hohen Belastung wie z.B. Armut, alkoholsüchtigen oder gewaltsamen Eltern ausgesetzt gewesen waren, psychisch auffällig wurden. Ein Drittel davon wies eine gute Entwicklung auf. Eine «problematische» Kindheit muss also nicht zwingend zu psychischen Problemen oder in die Kriminalität führen. Lehrperson, zu denen die Kinder ein Vertrauensverhältnis aufbauen können, von denen sie sich ernstgenommen und wertgeschätzt fühlen, können ungünstige Erfahrungen zuhause abfedern. Damit sind gerade Lehrpersonen zentrale Figuren für unsicher gebundene Kinder, weil sie negative Effekte auffangen können.
Prof. Dr. Guy Bodenmann ist ordentlicher Professor für Klinische Psychologie mit Schwerpunkt Kinder/Jugendliche und Paare/Familien am Psychologischen Institut der Universität Zürich.
Er ist Ausbildner und Supervisor von Kinder- und Jugendtherapeut/-innen sowie Paartherapeut/-nnen. Er ist Autor verschiedener Bücher, darunter «Was Paare stark macht».